Wien – Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist offen für eine Verschiebung der Nationalratswahl, um ihr Zusammenfallen mit dem EU-Ratsvorsitz im zweiten Halbjahr 2018 zu vermeiden. Dies sei zwar "Entscheidung der Mehrheit im Parlament bzw. der Bundesregierung, aber ob wir jetzt ein paar Monate früher oder später wählen, ist nicht das große Drama", sagte Van der Bellen der APA.

Die Bevölkerung erwarte aber, dass die Regierung bis dahin intensiv an konkreten Lösungen arbeite. "Es hat schon Länder gegeben, die den Ratsvorsitz hatten und gleichzeitig nationale Wahlen, und die Welt ist nicht zusammengebrochen. Aber dass das schwierig werden wird, das ist auch unbestreitbar." Der Ratsvorsitz sei "ein Argument, nicht zur gleichen Zeit Wahlen abzuhalten. Wie stark das Argument ist, kann ich nicht wirklich abschließend beurteilen", so Van der Bellen.

Gegen drastische Verkürzung

Aus der Regierung höre er diesbezüglich "unterschiedliche Ansichten". Allerdings sei er gegen "drastische Verkürzungen" der Legislaturperiode. Diese sei nämlich von vier auf fünf Jahre verlängert worden. Da sei es "unangemessen", wenn "nach drei Jahren schon Schluss" sei, sagte der Bundespräsident in offenkundiger Anspielung auf die Regierungskrise im Jänner.

Damals hatte sich Van der Bellen klar gegen vorgezogene Neuwahlen positioniert und an die Koalitionsparteien appelliert, sich zusammenzuraufen. Zurückhaltend äußerte er sich zu der Frage, ob Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sich in außen- und europapolitischen Fragen besser abstimmen sollten. "Im Europäischen Rat ist jedenfalls der Bundeskanzler mit Sitz und Stimme vertreten", sagt der Bundespräsident. Er vertraue darauf, dass sich Kanzler und Außenminister absprächen.

Kritik an May-Regierung

Am Brexit-Kurs der britischen Regierung übt Van der Bellen Kritik. Es gebe "100.000 offene Fragen zu klären" und "bis jetzt keinen einzigen kompromissfähigen Vorschlag", sagt Van der Bellen. Mit einem "Frexit" rechnet er nicht. Er hoffe, dass Marine Le Pen nicht französische Präsidentin werde. Eine EU ohne Frankreich könne es nicht geben. "Nicht in jeder Einzelheit, nein", sagte Van der Bellen auf die Frage, ob der EU-Abschied Großbritanniens innerhalb der vertraglich festgelegten Zweijahresfrist zu regeln sei.

Die May-Regierung stolpere "da in einem Sumpf von derzeit 100.000 offenen Fragen", sprach der Bundespräsident das Personenrecht an, etwa Pensionsansprüche von britischen Bürgern, die in der EU leben. Das Brexit-Votum bezeichnete er als "tragische Fehlentscheidung der Mehrheit der Abstimmenden im Vereinigten Königreich", das aber zu akzeptieren sei . Ausgelöst worden sei es durch ein "skrupelloses Vabanquespiel der politischen Elite", Van der Bellen äußerte sich anlässlich des 60. Jahrestags der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften.

Gefahr des Zerfalls nicht gebannt

Der Brexit sei zwar ein "Weckruf" gewesen, die Gefahr eines Zerfalls der Europäischen Union sei "nicht gebannt". Es könne passieren, "dass wir eines Tages aufwachen und sagen: "Wir hatten ein vereintes Europa, aber leider zu wenig Europäer, die an den Sinn eines vereinten Europas glauben".

Die nationalistische Rhetorik von Geert Wilders und Marine Le Pen sei "vollkommen realitätsfern", so Van der Bellen. "Da vertraue ich auf die Jugend, die sich diesen Freiheitsraum Europa nicht stehlen lassen wollen durch altvaterisches Geschwafel." Auf die Frage, was ihm persönlich bei einem Zerfall der EU am meisten fehlen würde, nennt Van der Bellen die "Freiheit" und "die Möglichkeit, mir einen Arbeitsplatz zu suchen, wo immer es mir gefällt in der Europäischen Union".

In der Diskussion über die Zukunft der EU unterstützt der Bundespräsident den ambitioniertesten der fünf Vorschläge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der eine stärkere Integration vorsieht. Das sei nämlich eine "Therapie" für die "Diagnose", dass die Probleme auf EU-Ebene nicht im Europaparlament oder der EU-Kommission entstehen, "sondern in den Räten, und hier insbesondere im Europäischen Rat".

Gegen Abbruch der Türkei-Beitrittsgespräche

Trotz der Eskalation in den Beziehungen zur Türkei ist Van der Bellen gegen einen demonstrativen Abbruch der Beitrittsgespräche. Er würde "nicht alle Türen zuschlagen wollen", weil die Türkei weiter ein EU-Nachbar bleibe. Sollte sie aber tatsächlich die Todesstrafe einführen, "müssen wir einen anderen Weg finden, wie wir gute Nachbarn bleiben wollen". In der Flüchtlingsfrage bezeichnet Van der Bellen Pläne für ein Abkommen mit Libyen angesichts der dortigen Sicherheitslage als nahezu "aussichtslos".

In der Debatte um die Sicherung der EU-Außengrenze pochte er auf die Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention. Es wäre menschenrechtswidrig, wenn die Kontrollen so gehandhabt würden, "dass es keine Möglichkeit mehr gibt, einen Asylantrag zu stellen". Im Streit um die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas zeigte sich Van der Bellen offen für den Einsatz finanzieller "Anreize". Solidarität sei keine Einbahnstraße, sagte er unter Verweis auf die "Milliarden", die Länder wie Polen oder Ungarn jährlich aus dem EU-Budget überwiesen bekämen. (APA, 24.3.2017)