Im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts machten sich die überzähligen Söhne als Kolonialherren und Missionare auf den Weg in die Welt.

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Verstädterung, Frauenerwerbstätigkeit, steigender Wohlstand, steigende Bildung, Kondome, sexuelle Massenaufklärung: Das alles hat die Kinderzahl in Europa in den vergangenen 100 Jahren von 6,6 auf 1,7 Kinder pro Frau drastisch reduziert. Es ist die Gralserzählung vom "demografischen Übergang".

Der war auch in Europa schwierig. Noch im 17. und 18. Jahrhundert war der Kontinent überfüllt. Doch die überzähligen Söhne machten sich als Kolonialherren und Missionare auf den Weg in die Welt. Erstere wollten Land, kostbare Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und Handelsmonopole auf den Weltmärkten. Missionare waren "Menschenfischer", die sich auf andere Kulturen aufsattelten – mit einer christlichen, nachmittelalterlichen, verhütungsfeindlichen Sexualmoral, die das natürliche Geburtenkontrollwissen ausrottete. 1890 waren vier Fünftel der Erdoberfläche erobert. Die überzähligen Söhne, die sich nicht auf den Weg gemacht hatten, wurden in europäischen Kontinentalkriegen verheizt: "Kindermord aus Staatsraison" heißt ein Buch des französischen Soziologen Gaston Bouthoul.

Noch einmal 2,6 Milliarden

Die überzähligen Söhne und Töchter in den heutigen Dritt- und Viertweltländern haben die Möglichkeiten ihrer europäischen Vorgänger nicht. Zwei Drittel der Erde sind durch sie überfüllt worden. Die nicht überfüllten Erstweltländer fühlen sich allein schon durch ihre Auswanderungswünsche bedroht – lange bevor tatsächliche Migrationswellen an den europäischen Außengrenzen aufschlagen werden.

2015, 2016 waren erst der Anfang. Die überfüllten Länder haben keine Aussicht, sich durch einen Bevölkerungsausgleich mit den Industrieländern zu "ent-füllen". Stattdessen werden sie sich bis 2050 weiter überfüllen: 94,4 Prozent der 2,6 Milliarden neuen Erdbewohner bis dahin werden dort zur Welt kommen. Mit unabsehbaren Folgen für innerstaatliche Kriege und massenhaftes Flüchten.

Weniger Kinder, mehr Wohlstand

Das gilt vor allem für den afrikanischen Kontinent. Zwischen 1950 und 2050 wird sich seine Bevölkerung um 1.000 Prozent vermehrt haben. Wer will, dass sich dort der "demografische Übergang" wiederholt, muss einen mutigen Gedanken wagen: 60 Jahre Entwicklungszusammenarbeit haben kaum Verbesserungen erreicht. Nur Wohlstand senkt die Kinderzahl, und niedrige Kinderzahl treibt das Wirtschaftswachstum an.

Das Wunder des Silicon Valley ist bei traditionellen Großfamilien mit vier, fünf, sechs und sieben Kindern nicht möglich. Weil wir aber in den überfüllten Ländern noch lange keinen Wohlstand haben werden, müssen wir durch eine Beschränkung auf 2,2 Kinder pro Frau das Wirtschaftswachstum durch Einführung von Geburtenkontrollverträgen auslösen. Das funktioniert nur in Kombination mit staatlich garantierter Pensionsversicherung. Es rechnet sich auch: Alterssicherung ist kein Akt der Caritas, sondern sie zündet den ökonomischen Motor.

Es gibt keine Beispiele, in denen sich Länder mit hoher Fertilität und raschem Bevölkerungswachstum aus eigener Kraft durch ökonomisches Wachstum aus ihrer Armut befreit hätten. Wer den Wohlstand der industrialisierten Ersteweltländer heute zugunsten armer Flucht- und Bürgerkriegsländer globalisieren will, der muss sie aus ihrem unkontrollierten Bevölkerungswachstum befreien und die dadurch freigesetzte Dynamik durch eine gesetzlich garantierte Rente und ökonomische Anreize unterstützen.

Gibt es Alternativen?

Sind zwei Drittel der Erde von Bewohnern überfüllt und das nichtüberfüllte Drittel schließt seine Grenzen hermetisch, dann bleibt als letztes Mittel: der Krieg in allen drei Dritteln. Geschieht nichts, werden Flüchtlingszahlen und bewaffnete Konflikte bis 2050 überall ansteigen. Das Attentat in London hat uns gerade erst wieder daran erinnert, wie der Krieg in den nichtüberfüllten Ländern aussehen wird. (Hartmut Dießenbacher, 3.4.2017)