Michael Stavaric, "Gotland". € 20,60 / 577 Seiten. Luchterhand-Verlag, München 2017

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Michael Stavarics Roman Gotland mag tatsächlich eines der gewaltigsten Bücher sein, die man gelesen haben wird. Das behauptet nämlich ein fiktionaler Autor im Vorspann der interessanten Geschichte um einen wahnsinnigen Protagonisten, von dem der Leser nicht weiß, ob er mit jenem identisch ist und nun seine Biografie zu Werke gebracht hat. Beides, Leben wie schriftstellerisches Werk, hat er nicht unter Kontrolle. Und jenes der Leser bringt er gehörig ins Wanken. Sie sterben mitunter, von der Wucht zigtausender Seiten, nichts als Fiktion, erschlagen. "Ein wirklich gutes Buch lässt sich nicht beschreiben, man muss seine poetische Kraft am eigenen Leibe erfahren", meinte seine Literaturagentin zu wissen, als sie noch lebte. Diese Selffulfilling Prophecy ist es, die den Helden zu Fall gebracht hat, bevor man ihn einwies und er Manuskriptberge spie.

In seiner Kindheit lief einiges schief. Aufgewachsen im intakten sozialen Umfeld scheint zunächst alles normal. Die Mutter schön, intelligent, sympathisch, unabhängig, Zahnärztin, alleinerziehend und recht religiös hat ein Auge für übrig gebliebene Kruzifixe auf Flohmärkten – vielleicht ein Tick, vielleicht ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem lieben Gott (beim Staubwischen geht sie Jesus über die Zähne) oder nur Leidenschaft der Sammlerin.

Symbolisch überhöhen könnte man jedenfalls viele der Legendenbildungen, auf die Stavaric auf 351 Seiten anspielt. Mit symbolischer Überhöhung Projektionen beim Leser auszulösen ist seine raffinierte poetische Strategie. Dafür bedient er sich gängiger Klischees um den Ödipus-Komplex. So könnte man meinen: Es ist nicht normal, gottgefällig Kruzifixe im Keller zu stapeln. Sie stauen sich an. Gott staut sich an. Gott braucht viel Raum. Ein Keller ist fast eine kleine Insel. Gott nimmt einen größeren Platz ein: Gotland.

Tatsächlich liebt die Mutter die Ostseeinsel und wurde der Sohn wohl auf Gotland gezeugt. Eine einzige Übertragung setzt also eine Kaskade an Projektionen in Gang. Und Stavaric konstruiert ununterbrochen solche Effekte anhand von Anekdoten, psychoanalytischem Gut, Bibelgeschichten, Gedankenzügen und inneren Einstellungen seines Helden. Die Geschichten sind urkomisch. Potenziert konfigurieren sie eine fragile Selbstidentität, die von ihrer Brüchigkeit nicht viel weiß, vor allem ahnt der Junge nicht, wie sehr sich ihm stellende und zu lösende Kindheitsrätsel die Befragung eines nicht existenten Gegenübers konstituieren und substituieren.

Er denkt, es geht um Gott, doch ist der eine Leerstelle für den Vater. Seine Fragen und Erkenntnisse sind weise, doch scheinbar banal. Der Leser findet sie anfangs harmlos. Zum Beispiel spielt der Junge Gottes Erschaffung der Welt. Er baut aus vorhandenen Dingen ein Sonnensystem. Ein gotländischer Stein hält als Erde her. Als die Sonne, vielleicht eine Apfelsine, davonrollt, hebt die Mutter sie auf und vor ihr Gesicht. Darauf denkt sich das Kind, alles werde fortan nur leichter und eifert Gott weiter nach. Bei der Schaffung von Mann und Frau findet es Frauencowboys nicht im Playmobilkasten und substituiert das Paar mit einem Foto von Mama und sich. Die Mutter gibt sich darüber nachdenklich. Und dann kocht sie sein Lieblingsessen. Solche Andeutungen des Autors reichen – die Symbiose zwischen den beiden scheint zu perfekt. Ein wenig Eifersucht hier, etwas Zweifel da, ein bisschen Suche nach dem männlichen Identifikationsangebot, ein bisschen Projektion in den einen Lehrer, ein bisschen in den Schuldirektor.

In der Pubertät erfährt es Männer als makelhaft. Der beliebte Turnlehrer wird entlassen vom katholischen Direktor, der es indessen mit seiner Sekretärin treibt, und sonst sind keine Männer zu sehen; davon abgesehen Lachen, viele rationale Gedanken, Experimentierfreude und Fantasie. Zu erwarten ist, was Mutter und Kind sich selber wünschen – die spätere Übernahme der Praxis.

Es kommt anders. Der Heranwachsende sucht eine Erfahrung mit Gott. Er beginnt, biblische Gleichnisse auf seine Existenz abzuklopfen. Signifikant ist ein Versuch mit der Legende um Abrahams Opfer. Dabei verbrennt eine Amsel. Statt Gott am eigenen Leibe zu erfahren, wird er traumatisiert. Er erfährt: Die lehrhafte Wirkung der Parabeln ist schicksalhaft falsch. Irgendwann passiert es. Die Projektionskaskade implodiert, als es den jungen Mann nach Gotland zieht.

Poetisch-satirische Masche

Dort begegnet er Charles, und man ahnt schon, hier findet er endlich einen älteren Freund. Halb mephistophelisch, halb übermenschlich stellt dieser den Gottesglauben nun auf eine viel härtere Probe. Charles will nichts weniger als unseren Protagonisten von Gott ablösen und in ein neues Zeitalter leiten. Anders als Musils Protagonist Ulrich in Der Mann ohne Eigenschaften reibt unserer sich nicht bewusst an den Fallstricken der Moderne. Dafür fehlt ihm bei Weitem die Einsicht.

Er ist ja symbiotisch gestört. Aber es gibt einen antipatriarchalen Lichtblick am Ende. Unser Held in Behandlung träumt sich in die Ablöseszene einer Frau in der jungen Adoleszenz. Im Federkleid eines Morgens erwachend, fliegt sie sehnsüchtig, aber frei ihren armen Eltern davon. Auf sie lauert die normale Welt und sicher auch hier und da ein Verrückter.

Es ist ein heißes Eisen, mit Bibelstellen und Psychoanalyseklischees über einen Schizophrenen zu schreiben. Stavaric lässt gar keines aus – von der Kastrationsangst über Inzestgedanken und Perversionsfantasie ist alles dabei -, aber das sind eben die Steuerungstools seiner poetisch-satirischen Masche. Je mehr an Klischee, desto effektiver die Übertragung, auch wenn wir Leser nicht wissen, wie Schizophrensein eigentlich ist.

Funktionieren, ohne seicht und zugeschüttet zu wirken, kann das nur aufgrund des scharfen Verstands des Autors, der Distanz hält, statt sich selber mit in die Buchstabensuppe zu kippen. Gotland ist eine durchgestylte Persiflage auf ihre eigenen Klischees und zugleich ein gewaltiger Roman, der vor Augen führt, wie nahe Vernunft und Irrationalität, Normativität und Wahnsinn, Wissenschaftsglaube und Fantasie beieinanderliegen. (Marietta Böning, Album, 7.4.2017)