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Nach dem Referendum stellt sich in Brüssel die Frage, ob ein Beitritt der Türkei überhaupt noch möglich bzw. sinnvoll ist.

Foto: REUTERS/Francois Lenoir

Die EU-Kommission wird in den kommenden Wochen eine formelle Prüfung beginnen, ob die Türkei jene Kriterien erfüllt, die für ein Bewerberland für den EU-Beitritt bzw. die Verhandlungen gelten. Einen Bericht dazu könnte es noch vor dem regulären EU-Gipfel Ende Juni geben. Möglicherweise werden die Staats- und Regierungschefs bereits dann darüber entscheiden, ob die derzeit "eingefrorenen" Beitrittsverhandlungen auch formell abgebrochen werden oder nicht.

Dieses Szenario wurde dem STANDARD am Wochenende bestätigt. Die offizielle Reaktion der wichtigsten EU-Institutionen wenige Stunden nach dem Referendum, bei dem eine knappe Mehrheit der türkischen Bevölkerung für eine Verfassungsänderung stimmte, die Präsident Tayyip Erdoğan weitgehende Vollmachten über Regierung, Parlament und Justiz einräumt, fiel verhalten aus.

Kopenhagener Kriterien

Die klare Gewaltentrennung, die absolute Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Verfassung und ihrer Organe – das sind zentrale Kriterien, die beim EU-Gipfel in Kopenhagen in den 1990er-Jahren für EU-Beitrittsbewerber aufgestellt wurden, neben der wirtschaftlichen Reife für einen Eintritt in die Union.

Nach Auffassung der Kommission würde die Umsetzung der Machtbefugnisse durch Präsident Erdoğan einen Bruch dieser Regel darstellen. Sie stützt sich dabei auf ein Gutachten der "Venedig-Kommission" des Europarates. Diese hat in der nunmehr vom Volk bewilligten neuen türkischen Verfassung einen "Rückschritt der Demokratie" erkannt, weil der Präsident quasi autoritär über die Türkei herrschen könnte.

Wahlbeobachter abwarten

In einer gemeinsamen Erklärung von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Außenbeauftragter Federica Mogherini und dem zuständigen Kommissar für die Erweiterung, Johannes Hahn, hieß es Sonntagabend, sie nähmen das Ergebnis zur Kenntnis: "Wir warten nun die Bewertung der OSZE und der internationalen Wahlbeobachterkommission ab."

Ganz anders als etwa bei österreichischen Regierungsspitzen ist in Brüssel von einem sofortigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen keine Rede. Der Verweis auf die OSZE lässt offen, ob die EU das vorläufige Ergebnis überhaupt als regulär anerkennt. Die EU-Spitzen verweisen auch darauf, dass das weitere Vorgehen nun "speziell von der praktischen Umsetzung" des Referendums abhängen werde. Das werde "im Lichte der Verpflichtungen der Türkei als Beitrittskandidat wie als Mitglied des Europarates bewertet werden".

Die türkische Führung wird in der Erklärung dazu aufgefordert, die Bedenken und Änderungsvorschläge des Europarates zu bedenken, insbesondere auch in Hinblick auf den verlängerten Ausnahmezustand im Land. Angesichts des knappen Ergebnisses solle man in Ankara auch "einen breitestmöglichen Konsens mit der Bevölkerung" suchen.

Warten auf möglichen Schwenk

Hintergrund der differenzierten Stellungnahme ist, dass man nicht ausschließt, dass Taktiker Erdoğan nach dem Erreichen seines Ziels einer Verfassungsänderung nun versuchen könnte, das Verhältnis zur Union zu entspannen. "Entscheidend" für eine Beurteilung werde sein, wie er weiter mit der Opposition umgehe; ob etwa zahlreiche Oppositionspolitiker weiter in Haft behalten werden, heißt es in Brüssel, oder ob Erdoğan die Wiedereinführung der Todesstrafe forciert.

Letzteres wäre ein klarer Grund, den EU-Beitrittsprozess abzubrechen, weil dies eine eindeutige Verletzung der "Kopenhagener Kriterien" darstellte.

Während also die Reaktion auf institutioneller EU-Ebene nüchtern ausfiel, drängten vor allem christdemokratische EU-Politiker auf einen raschen Ausstieg aus den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: "Die Vollmitgliedschaft kann kein Ziel mehr sein", sagte Manfred Weber, der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, im ZDF – diese "Lebenslüge" solle vom Tisch genommen werden. (Thomas Mayer aus Brüssel, 18.4.2017)