Fächerpalmen in der Schweiz? Am Luganersee im Kanton Tessin gehören sie zum mediterranen Landschaftsbild einer klimatisch begünstigten Region.

Foto: Thomas Schneider / bildbaendiger.de

Morcote vom See aus gesehen: Die Häuser in Morcote sind die verwirklichten Träume wohlhabender Familien, die schon seit dem Mittelalter trutzige Türme neben Arkadenbauten und Villen stellten, die an die Architektur venezianischer Paläste erinnern.

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Der älteste Teil von Morcote verbirgt sich hinter der Häuserfront an der Seepromenade. "Das schönste Dorf der Schweiz" wurde erstmals im 10. Jahrhundert urkundlich erwähnt.

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Morgenstimmung mit Holzboot am Luganersee

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Junge Wanderer bewundern von den Stufen, die den Besucher von Morcote zur Kirche Santa Maria del Sasso hinaufführen, das durch die typische Vegetation des Luganersees vermittelte Mittelmeer-Panorama.

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Morcote – das ist der Grund, Locarno und Lugano links liegen zu lassen. Menschen, die schon einmal in Morcote waren, nehmen bei der Erwähnung des Tessiner Dörfchens einen besonderen Gesichtsausdruck an, strahlend, sehnsüchtig, ein wenig entrückt, bis sie in ihren Erinnerungen auf ein Hindernis prallen, abrupt ernst werden und eindringlich warnen: Bloß nicht im Sommer! Dann findet man in Morcote kein Hotel mehr, hofft entweder vergeblich auf ein freies Plätzchen in einem der Straßencafés oder sitzt enttäuscht im Abgasblau all der Wagen, die sich über die schmale Uferstraße schieben und einem die Sicht auf den Luganersee verderben.

Morcote ist ein Magnet für Ausflügler und Urlauber. Doch in den ersten Monaten des Jahres, wenn in vielen Regionen Europas noch ein Wetter zum Abschiednehmen herrscht, zeigt sich das Dorf ruhig und beschaulich, aber schon wundervoll warm. Im einzigen geöffneten Restaurant sonnen sich die Gäste auf der Terrasse. Mit geschlossenen Augen legen sie die Köpfe in die Nacken und strecken ihre blassen Gesichter dem sanften Licht eines wolkenlosen Tages entgegen, so als müssten sie erst noch auftauen, bevor sie sich auf diesen Frühling einlassen können. Dann aber kann das Risotto mit einem Landwein aus der Gegend auf den Tisch kommen und der Espresso mit einer dichten, goldbraunen Crema serviert werden – Ars Vivendi. Willkommen auf der anderen Seite der Alpen – im Tessin, dem südlichsten Kanton der Schweiz!

Mediterrane 770 Seelen

In der "Sonnenstube der Eidgenossen" wedeln die Fächerblätter der Palmen mediterrane Stimmung herbei. Das Licht ist intensiver und das Klima milder. Die Menschen lachen lauter, vielleicht sogar öfter. Grund genug hätten sie, vor allem die Einwohner Morcotes. Ihre 770-Seelen-Gemeinde gewann 2016 in einem landesweiten Wettbewerb den Titel "Schönstes Dorf der Schweiz". Neu ist daran nichts. Die Schönheit des Dorfes an den Abhängen des Monte Arbostora hatte sich schon vor Jahrzehnten herumgesprochen. Das Schwärmen reichte bis über den Atlantik, wo ein Treffen zwischen dem in Morcote geborenen Jurist Plinio Bolla und dem US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower mit folgenden Worten eingeleitet wurde: "Herr Präsident, hiermit stelle ich Ihnen den Schweizerischen Richter Plinio Bolla, der in Morcote, dem schönsten Ort der Welt wohnt, vor."

Morcote hat sich seine unvergängliche Romantik nicht einfach aus dem See gefischt, und auch die üppige subtropische Vegetation bildet nur den Rahmen für die eigentlichen Glanzstücke des Dorfes – die Häuser. Sie sind die verwirklichten Träume wohlhabender Familien, die schon seit dem Mittelalter trutzige Türme neben Arkadenbauten und Villen stellten, die an die Architektur venezianischer Paläste erinnern. Im ruhigen Wasser des Luganersees spiegeln sich die dicht am Ufer gebauten Laubengänge der Patrizierhäuser, deren Fassaden reich dekoriert sind mit Stuckwappen, Portalen, Säulen und Sgraffitomalereien aus dem 16. Jahrhundert. Über den Köpfen der Flaneure schweben blumengeschmückte Loggien und schmiedeeiserne Balkone.

Die Perspektive der Möwen

Der ältere Teil des Dorfes verbirgt sich hinter der Häuserfront an der Seepromenade und führt durch dunkle Höfe und kühle Gässchen, die nie ein Auto befahren wird. Uraltes Mauerwerk dampft die Feuchtigkeit der Nacht aus. Die Strecia di Mort, die Todesgasse geleitet einen Richtung Friedhof, der hoch über dem Dorf gleich neben der Wallfahrtskirche mit dem mächtigen Campanile angelegt wurde. Hier oben teilen Besucher die Perspektive vorbeisegelnder Möwen und blicken über den blitzendblauen See, der seine Arme weit in italienisches Gebiet streckt.

Unter den vielen Künstlern, die auf Morcotes Friedhof ihre letzte Ruhe fanden, sind der russische Opernsänger Georges Baklanoff und der Dramatiker Georg Kaiser, aber das Who’s Who der Toten wird angeführt von Alexander Moissi, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts der berühmteste und bestbezahlte Bühnenschauspieler im deutschsprachigen Raum war. Todesdarstellungen waren die besondere Spezialität dieses Superstars. Keiner starb im Theater so vollendet schön wie er. Und als allerletzte Bühne hatte er sich Morcotes Friedhof ausgesucht, wie viele andere, für die das Tessin zum Sehnsuchtsort geworden ist.

Weitgereister Sankt Galler

Sie kamen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, erst die Kreativen, dann zogen die Reichen und Schönen nach, und das kleine Fischerdorf Morcote wurde mondän. Nicht ganz so mondän wie Lugano und Locarno, aber doch so schick, um in Villen und Gärten zu investieren, wie es der Sankt Galler Tuchhändler Arthur Scherrer tat. Der weitgereiste Kaufmann ließ sich an Morcotes Berghänge einen Park samt Palazzi errichten.

Der Clou dieser Anlage sind die vielen kleinen Gebäude im klassischen und fernöstlichen Stil, die Scherrer benötigte, um für all die Kunstwerke und Plastiken, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte, ein angemessenes Ambiente zu schaffen. Zwischen Zedern, Zypressen und mexikanischen Pinien verblüffen griechische und ägyptische Tempel, ein siamesisches Teehaus, wasserspeiende Kobras, byzantinische Löwen, Statuen nubischer Sklaven und ein indischer Palast – sie schicken die Besucher des Parks in einem Tag um 80 Welten.

Ab einem bestimmten Alter wird es schwer, etwas mit der gleichen Verzauberung anzuschauen, mit der man es als Kind konnte. Der Parco Scherrer, Morcotes mittelalterliche Gassen, der Glanz auf dem Wasser des Luganersees – all das schlägt eine Brücke in die Kindheit, und fortan wird Morcote ein Zauberwort sein, bei dessen Klang die Gesichter derer, die schon einmal dort waren, diesen ganz besonderen Ausdruck annehmen. (Nicole Quint, X.4.2017)