Die Ähnlichkeit mit Marine Le Pen ist beabsichtigt: In "Chez nous" schart die rechtspopulistische Parteichefin (Catherine Jacob) ihre Anhänger hinter sich.

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Will Wähler des Front National ansprechen: Lucas Belvaux.

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STANDARD: In "Chez nous" lässt sich die sympathische und eigentlich eher unpolitische Krankenschwester Pauline (Émilie Dequenne) als Bürgermeisterkandidatin in ihrem nordfranzösischen Heimatort aufstellen – für die fiktive rechtspopulistische Partei Le Bloc, die sehr dem Front National ähnelt. Kann jeder den Versuchungen des Rechtspopulismus erliegen?

Belvaux: Vielleicht nicht jeder, aber viele. Meine Protagonistin Pauline wurde in den 1980er-Jahren geboren, sie gehört einer Generation an, die nicht so viel mit Politik zu tun haben wollte.

STANDARD: Anders als Paulines Vater, den Sie als einen Alt-68er porträtieren.

Belvaux: Ja, und der sich schuldig fühlt, dass er seine Tochter nicht stärker politisch aufgeklärt hat.

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STANDARD: Es gibt einige Filme über Neonazis und Skinheads, aber seltsamerweise keinen über das, was wir im deutschsprachigen Raum "Extremismus der Mitte" nennen, also den Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen. "Chez nous" ist da eine Ausnahme. War das ein Grund für Sie, den Film zu drehen?

Belvaux: In Frankreich haben wir keinen Begriff wie "Extremismus der Mitte", wir sagen eher "Alltagsrassismus". Darüber wollte ich einen Film machen. Und zwar weil dieses Phänomen gefährlicher ist als der eigentliche Faschismus. Nazis stellen ja nur eine kleine Minderheit dar, während die extremistische Mitte bei Wahlen an die Macht kommen kann. Daher ist es wichtig, darüber Filme zu machen.

STANDARD: Sie machen es den Zuschauern leicht, sich mit Pauline zu identifizieren. Warum war Ihnen das wichtig?

Belvaux: Es war sehr wichtig für mich, mit diesem Film potenzielle Wähler des Front National anzusprechen, weil davon die Hälfte oder sogar zwei Drittel keine gefestigten Rassisten oder Faschisten sind. In den ersten Jahren waren die Anhänger der Partei wirklich ideologisch gefestigte Rechte, die Ausweitung der Wählerschaft in den letzten Jahren hat viel mit einer Verzweiflung der Wähler zu tun, mit einer Unzufriedenheit gegenüber den etablierten Parteien.

STANDARD: Die Rechtspopulisten gewinnen diese Wähler, indem sie sich geschickt als nicht ideologisch präsentieren, sondern als angeblich einzig an der Lösung von Sachfragen interessiert. Das zeigen Sie in "Chez nous".

Belvaux: Das hat in Frankreich eine lange Tradition: Schon Ende des 19. Jahrhunderts prägte die populistische Rechte unter General Boulanger den Slogan: "Nicht rechts, nicht links!" Ende der 1980er-Jahre, nach dem Ende des Kalten Kriegs, wurde dann so getan, als hätten sich die Klassengegensätze aufgelöst. Die Leute begannen zu vergessen, dass die Wurzeln der Populisten bei der extremen Rechten liegen, bei den Rassisten und Antisemiten. Die Populisten haben mit allen Mitteln versucht, diese Tradition zu vertuschen.

STANDARD: In "Chez nous" wird zweimal an markanten Stellen die französische Nationalhymne, die Marseillaise, gesungen, einmal auf einer Parteiversammlung der Rechtspopulisten und einmal in einem Fußballstadion. Können Sie etwas zur Bedeutung dieser Szenen sagen?

Belvaux: Die Marseillaise ist ein Lied, das kämpferisch die Ideale der Revolution hochhält. Die Rechte hat dieses Symbol der Französischen Revolution gestohlen. Dabei will sie doch zurück in eine Welt vor der Revolution! Mit Charles de Gaulle verfahren sie ähnlich: 1962 hat die OAS, eine rechte paramilitärische Untergrundorganisation, versucht, ihn zu töten. Die ideologischen Erben der OAS, als die ich den Front National sehe, machen heute mit Postern mit Zitaten von de Gaulle Werbung. Auf ähnliche Weise missbrauchen sie den berühmten Sozialistenführer Jean Jaurès, der von einem Rechtsradikalen umgebracht wurde. Der Front National stiehlt die Symbole der Republik, und dazu gehört natürlich auch die Marseillaise.

STANDARD: Aber im Stadion wird sie dann mit anderem Text gesungen.

Belvaux: Statt "Zu den Waffen, Bürger" singen die Fußballfans am Ende des Films "Auf geht's, ihr Rot-Gelben", das sind die Farben ihres Teams. Was bestimmt also die Identität dieser Leute? Frankreich? Ihre Heimatstadt? Ihr Team? Ich weiß es nicht, und sie wissen es auch nicht.

STANDARD: Der Regisseur und Drehbuchautor Guillermo del Toro hat einmal gesagt, um mit politischen Botschaften ein Publikum zu erreichen, das nicht sowieso schon mit einem übereinstimmt, sollte man Allegorien nutzen. Sie gehen einen anderen Weg.

Belvaux: Da liegt del Toro nicht falsch, aber in diesem Fall war es sehr wichtig, das Thema ganz direkt anzugehen. Seit zehn Jahren versucht der Front National, sich ein sauberes Image zu geben, daher muss man genau hinter diese Fassade blicken – und den Schmutz zeigen. Die Filme von del Toro arbeiten längerfristig, "Chez nous" ist dagegen spezifisch auf die Situation vor der Wahl in Frankreich gemünzt. Charlie Chaplin hat 1940 für "Der große Diktator" auch keine Allegorie gewählt.

STANDARD: Glauben Sie denn, Sie können mit Ihrem Film Wähler erreichen, die sich noch nicht sicher sind, ob sie den Front National wählen sollen?

Belvaux: Ich hoffe es. Auf jeden Fall nimmt der Front National den Film ernst. Schon als der Trailer im Jänner herauskam, haben sie ihn heftig attackiert und einen Shitstorm in den sozialen Medien lanciert. Sie wollten den Wählern den Film schon ausreden, bevor er überhaupt ins Kino gekommen ist.

STANDARD: Sehen wir mal vom Film ab – wie sollte man ganz allgemein mit dem Phänomen Rechtspopulismus umgehen?

Belvaux: Um die Rechtspopulisten zu bekämpfen, muss man sehr klar und entschieden seine eigenen Prinzipien verteidigen. Mindeststandards wie die allgemeinen Menschenrechte dürfen nicht zur Diskussion stehen. Meiner Meinung nach hätte man den Front National gleich nach seiner Gründung verbieten sollen. Ich glaube auch, dass es ein Fehler des Verfassungsgerichts in Deutschland war, die NPD nicht zu verbieten. Auf der anderen Seite haben die anderen Parteien aber auch die Verpflichtung, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. (Sven von Reden, 24.4.2017)

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In seiner 14. Ausgabe präsentiert das Linzer Filmfestival Crossing Europe insgesamt 160 europäische Spiel- und Dokumentarfilme. Im Wettbewerb um den besten Spielfilm finden sich international prämierte Arbeiten wie der Locarno-Gewinner "Godless" von Ralitza Petrova oder "House of Others" von Rusudan Glurjidze, im Dokumentarfilmprogramm widmen sich mehrere Arbeiten, etwa "Close Relations" vom ukrainischen Regisseur Vitaly Mansky, den Auswirkungen von Krieg und Migration.

Als fester Bestandteil beleuchtet die Reihe Arbeitswelten ebendiese in Zeiten von Globalisierung und Wirtschaftskrise, ein Spotlight ist der türkischen Regisseurin Yesim Ustaoglu gewidmet.

Das diesjährige Tribute wird für das polnische Regieduo Anka und Wilhelm Sasnal ausgerichtet, während die traditionelle Nachtsicht zu später Stunde mit Arbeiten aus dem Bereich des fantastischen Films aufwartet. (red, 24.4.2017)