Rolf Gleißner ("Migration: It's the demography, stupid!", DER STANDARD, 19. April) nimmt für sich in Anspruch, die Wurzel kriegerischer Konflikte in (Nord-)Afrika, von Hungersnöten und Migrationsbewegungen in einer simplen Ursache ausmachen zu können, die so einfach wie falsch ist. So argumentiert Gleißner, unterlegt mit Zahlen aus Bevölkerungs- und Sterbestatistiken sowie Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung afrikanischer Staaten, dass die zentrale und "ungenannte Ursache" der ökonomischen und politischen Situation afrikanischer Staaten im zu hohen Bevölkerungswachstum liege.

Damit schließt er an die von Thomas R. Malthus schon Anfang des 19. Jahrhunderts geäußerte These an, wonach unkontrolliertes Bevölkerungswachstum ökonomisch nicht tragbar sei und Armengesetze einer "natürlichen Selektion" im Wege stehen. Malthus' These wird im akademischen Diskurs heute kaum vertreten und gilt empirisch als widerlegt.

Die zentrale empirische Basis für das Argument Gleißners bildet die negative Korrelation zwischen Bevölkerungswachstum und ökonomischem Lebensstandard. Dabei scheint Gleißner in seinem Kommentar über weite Strecken Korrelationen mit Kausalitäten zu verwechseln beziehungsweise eine Kausalität zu unterstellen, die im Gegensatz zur im akademischen Diskurs einhellig vertretenen Argumentation auf der Vorstellung beruht, ein hohes Bevölkerungswachstum sei die kausale Ursache für ökonomische Stagnation.

Gegenbeispiel Europa

Die Geschichte der Bevölkerungsentwicklung europäischer Staaten zeigt hingegen ein gegenteiliges Bild. Lag das Bevölkerungswachstum in Europa Anfang des 19. Jahrhunderts durchaus auf einem Niveau, wie es Gleißner heute für afrikanische Staaten ausführt, sank das Bevölkerungswachstum infolge ökonomischen Aufschwungs und sozialpolitischer Reformen (etwa durch die Einführung rudimentärer Sozialsicherungssysteme im Zuge der Bismarck-Reformen in Deutschland, wodurch Kinder nicht mehr die ausschließliche Altersversorgung darstellten) Ende des 19. Jahrhunderts. Und nicht etwa durch die Einführung restriktiver familienpolitischer Maßnahmen durch autoritäre Regierungen, wie es Gleißner als Masterplan für Afrika vorzuschweben scheint.

Der von Gleißner gescholtene Jean Ziegler, aber etwa auch der renommierte Ökonom und Ungleichheitsforscher Branko Milanović haben hingegen eindringlich gezeigt, dass ökonomische Ungleichheit, sowohl auf nationaler wie insbesondere internationaler Ebene, die weitaus bedeutendere Ursache für die mangelnde ökonomische Entwicklung von Ländern Afrikas und Arabiens ist. So hat der internationale liberalisierte Freihandel im afrikanischen Kontext den Aufbau von kapitalintensiven Industrien verhindert und im Gegenteil die alleinige Konzentration auf Rohstoffexporte forciert. Profitiert hat von solcherart gestalteten Handelsverträgen eine kleine Minderheit lokaler ökonomischer Eliten bzw. lokal agierende internationale Konzerne. In den Worten Gleißners: Das Top-ein-Prozent frisst das Wirtschaftswachstum.

Unabhängig von der zweifelhaften Argumentation Gleißners sind aber auch die Form und Sprache des Kommentars äußerst befremdlich. Er spricht eurozentristisch von afrikanischen Frauen, die als "Gebärmaschinen" dafür verantwortlich seien, dass das Wachstum durch zusätzliche Bevölkerung "aufgefressen" werde. Dazu kommt die zynische Anmerkung, dass neben hohen Geburtenraten "dank westlicher Medizin" auch noch die Sterberate sinke. Nur zur Klärung: Im von Gleißner herausgegriffenen Niger liegt die Lebenserwartung 2015 bei etwa 54 Jahren, die Kindersterblichkeit bei etwa einem Prozent.

Um es in seinen Worten zu sagen: Nicht die von Hungersnöten bedrohte afrikanische Bevölkerung "frisst das Wirtschaftswachstum auf", sondern strukturelle Ungleichheiten, die die Grundlagen lokaler Wirtschaftsstrukturen über Jahrzehnte hinweg zerstört haben. Und selbst dem Bevölkerungswachstum Afrikas würde durch Investitionen in Bildung und den Aufbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme besser entgegengewirkt als mit dem paternalistischen Hinweis auf eine restriktive "Familienplanung". It's the economy, stupid! (Stephan Pühringer, 27.4.2017)