André Pilz: Der Vorarlberger in München setzt alles auf eine Karte – und gewinnt.

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André Pilz, "Der anatolische Panther". Kriminalroman. € 12,95 / 448 Seiten. Haymon-Verlag, Innsbruck 2016

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Wer hätte gedacht, dass München so kalt sein kann. Die bayerische Landeshauptstadt, in der im TV seit Derrick zwischen ranzigen Wachkoma-Klischees ermittelt wird. Die Stadt mit einer Extremdichte an BMWs, Luxusläden, Großprotzen plus des Uli-Hoeneß-Fanclubs alias FC Bayern München. Auf dem Weg von der Innenstadt in die Säbener Straße fährt man auch durch Giesing. Viele werden dort urplötzlich schneller.

Giesing. Haben sich in diesen Stadtteil von München, kleinstbürgerlich, mit letzten Überbleibseln einer Arbeiterschicht und Kleinhäuslern, in den letzten Jahren jemals Touristen verirrt? Dönerläden gibt es hier, jede Menge Discountfriseure und immer mehr Ein-Euro-Shops, Sozialwohnungen aus den 1950ern, ranzige Stehkneipen in Sichtweite der Stadtautobahn. Hier leuchtet die Stadt an der Isar nicht. Böse Zungen behaupten durchaus korrekt, es gebe in Giesing drei kulturelle Einrichtungen: Hertie (mittlerweile geschlossen, abgerissen und durch einen Neubau mit einem Woolworth ersetzt), McDonald's zu Füßen eines Sozialwohnungsturms und das Grünwalder Stadion des TSV 1860 München, jenes Fußballteams, das seit langem sportlich im tiefsten Mittelmaß dümpelt und finanziell schon längst kollabiert wäre, hätte nicht ein jordanischer Geschäftsmann, natürlich lupenreiner Demokrat, weit sein Börserl aufgemacht, um Kicker einkaufen zu lassen, die, kaum in Giesing angekommen, alles vergessen, was sie nie übers Fußballspielen wussten. Und um regelmäßig alle sechs bis zehn Monate die komplette sportliche Führung auszutauschen.

Einst, vor ungefähr vier Jahren, war auch Tarik Celal, Deutschtürke aus Giesing, Profikicker. Hat den Traum aller Giesinger Buben gelebt – er hat es in die Kampfmannschaft der "Löwen" geschafft. Ein Journalist nannte ihn, Spezialität: Blutgrätsche, schwülstig "Der anatolische Panther". Dann stieg Tarik aus, aufs Kreuz gelegt von Spielervermittlern, stürzte ab. Wurde Kleindealer. Hängt mit einer schrägen Clique ab, mit dem Ex-Nazi Doogie, mit Sugo-Joe und Yiannis. Ist auf Bewährung, weil er zugekifft eine Oma auszurauben versuchte, die sich am Steißbein verletzte. Dieser Tarik, heftig verliebt in die kubanische Medizinstudentin Nteba, wird zur Schachfigur in einem Kriminalfall, der, dirigiert von einem dubiosen Ex-Polizisten, zu einem radikalislamistischen Hassprediger führt, zu einem Einbruch, zur Flucht inklusive Angriff auf eine Bundespolizistin und einem Showdown auf der Seebühne und in der Innenstadt von Bregenz.

Sechs Jahre Zeit hat sich der in München-Giesing lebende Vorarlberger André Pilz gelassen seit seinem letzten Roman Man Down. "Besser in Stadelheim mit Kohle als in Giesing pleite. Aus Stadelheim kommst du eines Tages raus. In Giesing bleibst du ohne Geld für immer": Das las man damals gleich auf einer der ersten Seiten seines brachialen Romans, dessen Hauptfigur ein junger Dachdecker war, ungesichert vom Dach gefallen, hinkend, arbeitslos, der seine Zeit mit Kiffen, Saufen und türkischen Kumpels totschlägt, schließlich Haschisch von Innsbruck nach München als Kurier transportiert. Und noch tiefer in die Bredouille abrauscht. Man Down war ein rabiater Anschlag auf die laue Abgestandenheit eines Literaturbetriebs, der sich im Dreieck von Altbauwohnungen, Verlagsempfängen, De-luxe-Literaturfestivals und Novellen über saturierte Altarchitekten, denen, ach wie politisch, am Gardasee ein Flüchtlingskind begegnet, abspielt. Bei Pilz werden, ganz unten, keine Scheinprobleme abgehandelt. Sondern existenzielle: Reicht das Geld bis zum Monatsende? Wie physisch überleben, morgen, übermorgen, wenn die Gesellschaft einen als unnütz ausgespuckt hat? Schlag ich zurück? Oder verkriech ich mich? Dementsprechend ist die Sprache: Straßenslang, derb und abgefuckt. Wenn das Leben ein Bastard ist, dann erst, was an Worten rausgerotzt wird.

Das Tempo stimmt

Die deutschsprachige Literatur hat immer wieder Autoren hervorgebracht, die sich auf außerliterarische Milieus einließen, die anderen als Testosteron-Niederungen erschienen, Jörg Fauser, jüngst Clemens Meyer und Philipp Winkler. Im Gegensatz zum Fließbandproduzenten Friedrich Ani und seinen alle Ansprüche an reduzierten Ehrgeiz sorgsam erfüllenden Büchern, der einen sehr frühen Krimi (Killing Giesing) in ebendiesem Grätzel ansiedelte, in dem er heute immer noch, als Bestsellerautor, wohnt, setzt Pilz alles auf eine Karte. Und bringt derart lebensecht abgelauschte, perfekt getaktete Dialoge zu Papier, dass es schier staunenswert ist. Pilz gibt jeder Figur einen anderen Tonfall, als hätte er in seinem Leben nichts anderes gemacht. Das Tempo stimmt, die Dramaturgie, die Charaktere. Donald Westlake, rutsch rüber! Don Winslow, kusch! Da kann man wirklich nur in Richtung des aktuell einzig ernstzunehmenden deutschen Filmregisseurs rufen: Dominik Graf, übernehmen Sie! Ganz am Ende hätte der Verlag, der klugerweise dreckige Krimis als Paperback herausbringt, André Pilz einen etwas weniger guten Ausgang schreiben lassen sollen. Wenn schon krass, dann auch bitte schön krass bis zum Allerletzten. (Alexander Kluy, 29.4.2017)