Seit 30 Jahren in Österreich, doch der Kopf ist immer wieder auch in der Türkei: Demir H. hat für die Machtausweitung des Präsidenten Erdoğan gestimmt.

Foto: Christian Fischer

Andere türkeistämmige Bürger haben für die vielen Jubler kein Verständnis.

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"Die sollen sich nach Hause schleichen", sagen Erkan und Tülay Y.

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Ein misstrauischer Blick zur Seite, ein flüchtiger Wink in Richtung Ausgang: "Gehen wir lieber vor die Tür", rät der Kunde mit dem Kartoffelnetz in der Hand, der sich und seine Frau gerade mit frischgebackenen Sesamringen versorgt hat. Schließlich gebe es in der Gegend "lauter Erdoğans", und er wolle sich kein Blatt vor den Mund nehmen müssen: "Viele sind ungebildete Bauern, die so leben möchten wie vor 50 Jahren. Wenn Sie mich fragen: Die sollen sich nach Hause schleichen."

Lästert da ein autochthoner Urwiener über die aus dem Ausland zug'rasten Nachbarn? Ein Hauch von Akzent verrät: Das Paar, das seinem Ärger vor einer Bäckerei am Rande des Hannovermarkts Luft macht, stammt selbst aus der Türkei. Doch in der Heimat der Eltern fühlen sich Erkan und Tülay Y. allmählich "wie Außerirdische", seit die Islamisierung um sich greife und Frauen das Kopftuch aufgedrängt werde. "Wir sehen uns als Österreicher, zahlen hier Steuern, kümmern uns um das, was hier passiert", sagen sie – und sehen nicht ein, warum sich so viele ganz anders gebärdeten: "Die entscheiden über Leute, die in einem anderen Land leben."

Die beiden sind nicht die Einzigen, denen das Ergebnis vom 16. April in den Knochen steckt. In einem Referendum ließ sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von Landsleuten weltweit mit ausufernden Machtbefugnissen ausstatten, wobei ihm die Austrotürken starken Rückhalt boten: Weit überdurchschnittliche 73 Prozent der Stimmen fuhr der Staatschef hierzulande ein.

Zwar hat offenbar die Hälfte der in Österreich lebenden Bürger mit türkischem Pass gar nicht mitgestimmt, doch ein Generalverdacht geistert seither nichtsdestotrotz durch die politische Debatte: Wenn eine Migrantencommunity einem Autokraten huldige, der Opposition und Medien unterdrücke, könne es mit der Akzeptanz westlicher Werte nicht weit her sein. Oder, in den schonungslosen Worten des Ehepaares vor der Bäckerei: "Viele Türken wollen sich einfach nicht integrieren."

Wer einen Rundgang über den von grauen Nachkriegsgemeindebauten flankierten Hannovermarkt unternimmt, dem kann sich dieser Eindruck schon aufdrängen. So mancher, der sich dem STANDARD hier als jahrzehntelang Ansässiger vorstellt, spricht nur gebrochen Deutsch. Einschlägige Sprachfertigkeiten sind für die Alltagsbewältigung in jenem Grätzel der Brigittenau, einer der Wiener Bezirke mit dem höchsten Zuwandereranteil, denn auch nicht zwingend notwendig. Türkische, bosnische und tschetschenische Fleischer matchen sich um die am üppigsten mit Hendlhaxn und Lammschultern bestückte Kühlvitrine, altösterreichische Tschecherln konkurrieren mit Kebab-Buden und russischen Greißlern.

Angst vor dem zweiten Hitler

Gemischt ist auch die politische Stimmungslage. Die einen nennen Erdoğan, allem Gerede über türkische Regierungsspitzel zum Trotz, einen "zweiten Hitler" oder – wie ein hinter Schnellkochtöpfen und Tupperwareschüsseln verschanzter Marktstandler – zumindest einen Diktator. Mit 18 habe er die türkische Staatsbürgerschaft abgelegt, weil man sich irgendwann einfach für ein Land entscheiden müsse, sagt dieser. Mit dem Votum für türkischen Nationalismus schnitten sich die Ex-Landsleute ins eigene Fleisch, wie die Gegenreaktion österreichischer Politiker zeige: "Erdoğan hat uns hier zum Feind gemacht."

Andere drehen den Spieß um. Jetzt stelle einmal er eine Frage, kontert ein seit einem Jahrzehnt in Österreich lebender Fleischhauer, der streckenweise einen mit osmanischem Fez ausgestatteten Kollegen übersetzen lässt: "In den USA und Frankreich gibt es auch Präsidenten mit viel Macht. Warum wird nun in der Türkei daraus ein Problem gemacht?" Den Hinweis auf die anderswo ausgeprägtere Gewaltenteilung identifiziert er ebenso als Desinformation wie Berichte über bedrohte Journalisten und Oppositionelle. Bei regelmäßigen Urlauben habe er sich davon überzeugt, dass es in der Türkei aufwärtsgehe: "Die Leute wählen Erdoğan, weil er nicht lügt."

Welchen Grund der Westen haben könnte, den Staatschef aus Ankara gezielt schlechtzumachen? Die Türkei sei reich an Bodenschätzen, erklärt ein junger Mann, der in einem Restaurant nahe dem Markt an einem Dönerspieß herumsäbelt. Nun, wo das Land nicht mehr nach der Pfeife der westlichen Industrie tanze, gehe die EU auf Erdoğan und die Türken los. Unfair findet das der Bursche: "Wer macht denn Kebab für euch? Wer gibt sich mit den engsten Wohnungen zufrieden?"

"Erdoğan hat keine Wähler, er hat Fans", sagt Çaglayan Çaliskan, Unternehmensberater mit Fokus auf interkulturelle Kompetenz, der auch schon für die Polizei Seminare über den Umgang mit dem Fremden abhielt. "Er ist der Erste seit Jahrzehnten, der wieder ihren Nationalstolz befriedigt." Dies verfange deshalb auch bei Austrotürken, weil das Gastland nie eine Ersatzidentität geboten habe. Wer wie er regelmäßig mit dem Taxi fahre, lerne eines, sagt Çaliskan: Oft würden Migranten auf die Frage nach der Herkunft Orte in der Türkei nennen – "auch wenn die Großeltern die Letzten waren, die dort geboren wurden".

Weggefegte Gastarbeiterjobs

Dass viele mit dem Kopf nie ganz angekommen seien, liege nicht zuletzt an der misslichen sozialen Lage, glaubt der Unternehmer, der seit bald 30 Jahren im Land ist. Hat die Politik da also versagt? "Sprechen wir von einem Versäumnis", empfiehlt er, denn mit Schuldzuweisungen solle man vorsichtig sein: Wie überall in Europa hätten eben auch hierzulande die Politiker – "und ich bin Gott sei Dank keiner" – jene ökonomischen Umwälzungen nicht vorausgesehen, die alte Gastarbeiterjobs hinwegfegten.

Mit einem Plus von 66 Prozent legte die Zahl der Arbeitslosen mit türkischem Pass in den letzten fünf Jahren doppelt so stark zu wie jene der österreichischen Betroffenen – und das von einem ohnehin schon chronisch schlechten Niveau aus. Ob Jobs, Bildung oder Lebensstandard: Soziale Charts weisen türkeistämmige Bürger als Nachzügler aus, und zwar auch im Vergleich mit Zuwanderern aus Ex-Jugoslawien.

Österreich habe in den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem einfache Arbeitskräfte aus Anatolien geholt, die schlechter gebildet waren als jugoslawische "Gastarbeiter", analysieren Experten – und diesen Rückstand konnten die Kinder nie aufholen. Dass das Bildungsniveau im offenbar kaum reformierbaren Schulsystem je nach sozialem Status stark von Generation zu Generation vererbt wird, belegen Studien seit Jahren.

Als Paralleldorf gekommen

Doch dies erkläre nur einen Teil des Problems, sagt Gudrun Biffl von der Donau-Universität Krems und hält die Bindung an das Herkunftsland für ein spezielles Hemmnis. Viele Türken seien nicht als Individuum gekommen, meint sie, "sondern als Paralleldorf".

Gang und gäbe sei es etwa, Ehepartner gezielt im Ursprungsland zu suchen – womit auch gesellschaftliche Entwicklungen importiert würden. So schleiche sich die in der Türkei in Gang gesetzte Islamisierung samt Rückkehr zum traditionellen Frauenbild in die österreichische Community ein, sagt die Migrationsforscherin. Der Anteil der Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, die in Erwerbsarbeit stehen, dümpelt weit unter dem allgemeinen Niveau.

Auch die Sitte, Schüler für ein Jahr in die alte Heimat zu schicken, "damit sie ordentlich Türkisch lernen", sei nur gutgemeint, sagt Biffl und hält es bereits für problematisch, wenn die Ferien vom ersten bis zum letzten Tag in der Türkei verbracht werden. Dies mache es den ohnehin schon mit Sprachproblemen ringenden jungen Menschen auch noch schwer, abseits der türkischen Szene Freundschaften aufzubauen, viele gehörten weder da noch dort richtig dazu. Dennoch werde die Illusion gepflegt, dass ohne weiteres eine Rückkehr in die Türkei möglich sei – was so manchen hindere, sich voll auf den Aufstieg in Österreich zu konzentrieren.

Türkei schwirrt im Kopf

Demir H. ist seit 1986 in Österreich, er steht vor einem Supermarkt in der Brigittenau und gibt Order an Bedienstete aus. Als Filialleiter hat er es zu etwas gebracht, eine Rückkehr in die Türkei schwirrt ihm trotzdem im Kopf herum. "Ich würde schon gehen", sagt der 37-Jährige, aber seine beiden Töchter wolle er dann doch nicht aus der Schule reißen. Sehr erfreulich habe sich die Türkei entwickelt, Straßen seien ausgebaut worden, die Schlangen bei den Ärzten gehörten der Vergangenheit an. Deshalb habe auch er für Erdoğan gestimmt, sagt H. und versteht nicht, warum dies jemand für ein Zeichen verfehlter Integration halten kann: Wenn man etwas im Geburtsland zum Guten beeinflussen könne, nütze man eben die Chance.

In Österreich hingegen gehe es seit dem EU-Beitritt bergab, befindet er – ein gemeinsamer Nenner beim Rundgang im Bezirk. Auch über die hohen Abgaben klagen die Austrotürken. Immer wieder – und das gilt nicht nur für Erdoğan-Fans – ertönen Beschwerden über die "Asylanten". Vieles klingt vertraut und nach alteingesessenen Protestwählern, nur dass die mit der FPÖ eine Partei wählen, die sich als Antipode zu den nationalbewegten Türken stilisiert.

Die Attacken von Heinz-Christian Strache, Sebastian Kurz und anderen EU-Politikern hätten Erdoğan erst richtig Zulauf beschert, erklärt ein gealterter Bauarbeiter auf einer Bank beim Hannovermarkt mit derart lebhafter Gestik, dass sich eine neugierige Menschentraube ansammelt. "Die Türken haben Herz, sie laufen nicht davon", sagt er. "Greifen die Europäer Erdoğan weiter so an, haben wir ihn noch 100 Jahre." (Gerald John, 6.5.2017)