Einkaufsstraße in Mongkok, dem chinesischen Viertel der 7,3-Millionen-Einwohner-Stadt Hongkong: tagsüber ein Bild aus heruntergekommenen Mietshäusern, nachts ein grelles LED-Lichtermeer.

Foto: Imago

Daniel Lee (35) hat in Mongkok den Buchladen Hong Kong Reader.

Foto: M. Marek

Mongkok, das chinesischste Viertel der 7,3-Millionen-Einwohner-Stadt Hongkong: tags-über ein Bild aus heruntergekommenen Mietshäusern vor den Glasfassaden nagelneuer Bürotürme. Nachts verschwindet alles hinter dem grellen Lichtermeer aus Millionen LED-Leuchtreklamen, die den Straßen den Glanz einer Weltstadt geben.

Zwischen Modeboutiquen, Handyshops und Imbissbuden, zwischen parkenden Lastwagen, hupenden Taxis, piependen Ampeln, vor denen sich Menschen drängen, führt ein schmaler, unscheinbarer Hauseingang in der Sai Yeung Choi Street hinauf in den siebenten Stock. Dort liegt Hong Kong Reader, einer von etwa fünfzig unabhängigen Buchläden der Stadt. Ein kleines Refugium der Literatur, der "Freiheit des Wortes", wie es Buchhändler Daniel Lee nennt.

Kater Ai Weiwei

Bei Hong Kong Reader sieht es aus wie in einem alternativen Buchladen der 1970er-Jahre. Dicht an dicht stehen die Regale im etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum. Es gibt Kaffee für Besucher. An einer Stirnseite Werke von Camus bis Nietzsche, ein wenig Belletristik, Geografie, Geschichte. Gegenüber lange Reihen chinesischer Titel. Dazwischen Secondhandbücher. Kunden blättern still in dem, was sie interessiert. Kater Ai Weiwei schaut aus dem Fenster.

Daniel Lee, 35, hat einen Philosophie-Abschluss der Universität. Mit zwei Kommilitonen eröffnete er vor neun Jahren Hong Kong Reader. Sie wollten nach dem Studium etwas Eigenständiges machen, Menschen treffen, mit denen sie geistesverwandt sind. Das Internet sei unzensiert, beschreibt er den Informations- fluss in Hongkong. Facebook und Google ließen sich aufrufen, Seiten, die in Festlandchina nicht verfügbar sind. "Hongkong ist von der großen chinesischen Firewall ausgenommen", erzählt Lee. Gleichzeitig würden Verleger verhaftet, nicht durch Hongkongs Behörden, sondern auf Druck der CCP, der Chinesischen Kommunistischen Partei.

Was stören mich die Repressionen

Der schlanke Geisteswissenschafter mit der hohen Stirn hat das Motto: Was stören mich die Repressionen, irgendwie komme ich schon durch. Denn fast 20 Jahre nach der Rückkehr Hongkongs ins Reich der Mitte wird es für Hongkong und seine Bewohner politisch immer enger, so Lee. Er selbst fühle bislang keine direkte Bedrohung. Auch nicht nach den Entführungen von Lee Bo, Lam Wing-kee und anderen Buchhändlern, die zwischen Oktober und Dezember 2015 – zunächst spurlos – verschwanden.

Schnell wurde klar, dass man sie genötigt hatte, in Festlandchina einzureisen. In Hongkong gingen tausende auf die Straße, um gegen das Vorgehen Pekings zu demonstrieren. Nach seiner Freilassung im Juni 2016 berichtete Lam Wing-kee davon, was ihm während seiner Internierung widerfahren war: Isolation, Verhöre, Androhung von Haft – und das über Monate. "Nach meinem Verständnis wurden diese Männer verhaftet bzw. gekidnappt, weil sie nicht nur Bücher verkaufen, sondern auch Verleger sind", resümiert Lee die Lage. "Sie bringen Bücher über chinesische Politik heraus, über parteiinterne Auseinandersetzungen in Peking." Und das sind "sehr sensible Themen".

Hong Kong Reader ist ein klassischer Buchladen, wenn auch mit einer ganz eigenen Thematik. "Die meisten Bücher verkaufen wir aus einem Genre, das wir selbst entwickelt haben: Hongkong-Studien", sagt Lee. Das umfasst Politik, Gesellschaft, Geschichte und Ähnliches. Alle chinesischen Bücher werden in Hongkong gedruckt. "Die Bestseller", so Lee, "befassen sich mit unserer sozialen Bewegung, vor allem dem "Umbrella Movement".

Autonomiestatus mausetot

Die Pro-Demokratie-Bewegung im Zeichen des Regenschirms als Widerstandssymbol brachte seit Ende 2014 Zehntausende auf die Straßen. Vor allem Studenten protestierten gegen die Einschränkung von Bürgerrechten, die der Nationale Volkskongress in Peking beschlossen hatte. Ein Prozess der steten Aushöhlung der Teilautonomie Hongkongs. Die "Menschen sind alarmiert", weiß der Buchhändler.

Der politische Druck wächst. Inzwischen stellen sogenannte "Pro Peking"-Parteien mehr als die Hälfte der Parlamentarier des Legislativrats, der gesetzgebenden Versammlung Hongkongs.

Im November 2016 wurde zwei frei gewählten Vertretern aus dem Umbrella Movement auf Intervention Pekings der Parlamentarierstatus aberkannt. Der Volkskongress legte dazu ein Gesetz in seinem Sinn aus, das als "Basic Law" 1997 auch beschlossen worden war, um der Stadt das Gegenteil zu garantieren, den Grundsatz der Teilautonomie: ein Land, zwei Systeme.

Desillusionierte Prognose

Daniel Lee jedenfalls ist mittlerweile ernüchtert und erklärt, "dass dieser Grundsatz hier und jetzt mausetot ist". Peking behalte sich im Streitfall das alleinige Entscheidungsrecht vor. Die Unabhängigkeit "unserer Gerichtsbarkeit ist damit vorbei". Es ist ein breites, sukzessives Vorgehen der Pekinger Führung, dessen negative Folgen für Hongkong und seine Bewohner immer deutlicher zutage treten: Übernahme der Wirtschaft, der Presse, der Radio- und TV-Sender. Eine schleichende Entmündigung der Legislative, offene Repression gegen prodemokratische Bewegungen. Und: die Inhaftierung unliebsamer Verleger. Vor diesem Hintergrund stellt Daniel Lee seine desillusionierte Prognose.

Einflussnahme erfolgt auch über die Sprache. In Hongkong wird Kantonesisch gesprochen, in Festlandchina vorwiegend Mandarin. Während Kantonesisch – verkürzt gesagt – ein Dialekt ist, ist das Mandarin der Volksrepublik eine vereinfachte Form des Hochchinesischen, der eigentlichen Schriftsprache aller Chinesen. Und weil immer mehr Festlandchinesen in die ehemalige britische Kronkolonie kommen, gewinne Mandarin nun auch in Hongkong an Gewicht, so Lee: "Traditionell wird in der Schule auf Kantonesisch unterrichtet. Nun versucht man, Mandarin zu promoten. TV-Kanäle wechseln zu Mandarin und dessen vereinfachte Schriftzeichen, die auf dem Festland, aber nicht in Hongkong üblich sind."

Bleiben oder auswandern

Dies ist ein bis jetzt kaum beachteter Aspekt im Konflikt um die Freiheit des Wortes. Die Bücher Hongkongs werden im vorkommunistischen Hochchinesisch gedruckt. In China dagegen im abgespeckten Mandarin, das einst eingeführt wurde, um das Analphabetentum leichter zu bekämpfen. Literatur aus Hongkong ist daher sofort zu identifizieren. Wer sie in China einführt, hat schnell ein Problem, sagt Lee: "Wenn man bestimmte Bücher oder einfach auch nur zu viele, die in traditionellen chinesischen Schriftzeichen geschrieben sind, aus Hongkong mit zurück nach Festlandchina nimmt, dann riskiert man, festgenommen zu werden und im Gefängnis zu landen! Unsere Bücher sind alle in diesen Schriftzeichen geschrieben. Und Festlandchina erlaubt eigentlich keine Einfuhr von Büchern, die nicht dort veröffentlicht wurden."

Es werde der Stadt sehr schwer fallen, ihre Teilautonomie zu erhalten, solange sie Teil Chinas ist. In den letzten zwei Jahren seien die Aussichten dafür deutlich düsterer geworden, vor allem seit gewählten Volksvertretern unerwünschter politischer Bewegungen wie dem Umbrella Movement der Zugang zum Hongkonger Parlament verwehrt werde.

"Wir werden kämpfen müssen"

Die Hoffnung liege bei den Menschen in Hongkong. Wenn sie bereit seien, für ihre Freiheit und Autonomie zu kämpfen, dann gebe es vielleicht eine Chance gegen den Machtapparat der Kommunistischen Partei in Peking. Die Studenten hätten den Anfang gemacht mit ihren Protesten seit 2014. Hongkonger Anwälte demonstrierten im November dieses Jahres gegen die Anwendung des Basic Law. Lam Wing-kee, einer der entführten Buchhändler, machte nach der Entlassung seine Inhaftierung öffentlich und beschrieb die Repressionen während der Internierung in China.

Die Hongkonger wachen auf. "Realistischerweise muss man sagen, dass es nicht einfach wird. Wir werden kämpfen müssen, das ist das Einzige, was wir tun können". Aber er wisse von Menschen, sagt Daniel Lee, die daran dächten auszuwandern. Doch eigentlich wolle er diesen Ort, an dem er so lange gelebt habe, nicht aufgeben: "Warum soll ICH gehen, warum geht IHR nicht?" (Michael Marek, Sven Weniger, 13.5.2017)