Wien – In seiner Zeit als Chef des Wifo fiel der Eiserne Vorhang, Österreich trat der EU bei und tauschte den Schilling gegen den Euro ein. Anlässlich des 90. Geburtstags des Wifo, des größten Wirtschaftsforschungsinstituts Österreichs, gibt der Ökonom Helmut Kramer (77) Einblicke in ein halbes Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte und das System Österreich. Er war von 1981 bis 2005 Wifo-Chef.

Das geschriebene Interview wurde stark gekürzt. Das ganze Gespräch, das über eine Stunde dauert, lässt sich hier und als Podcast nachhören (einfach in der App nach "Nachfrage – der Interview-Podcast" suchen).

STANDARD: Sie waren 24 Jahre lang Chef des Wifo. Haben Politiker häufig bei Ihnen interveniert?

Kramer: Es ist schon interveniert worden. Am Ende meiner Amtszeit – ich hatte nur noch ein Jahr – habe ich einem einmal gesagt: Ich schreibe meine Memoiren, und du wirst darin vorkommen. Das hat dann funktioniert.

STANDARD: Können Sie mir ein Beispiel nennen? Wie lief das ab?

Kramer: Als unter Kreisky Herbert Salcher Finanzminister wurde, hat er mich einmal von einer Weltbank-Tagung in Toronto angerufen. Wir haben einen Bericht veröffentlicht, wonach die Firmen vorhaben, weniger zu investieren. Salcher meinte, was mir denn einfalle, so etwas zu schreiben und den österreichischen Standort madigzumachen. Ich habe ihm gesagt, dass das ein Faktum sei, vielleicht könne er ja etwas dagegen unternehmen. Uns ging es als Wifo immer um das Land – nicht um die Regierung.

Helmut Kramer war 24 Jahre lang Chef des Wifo.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Hat die Regierung auch in Studien gepfuscht?

Kramer: Ganz selten. Aber einmal, erinnere ich mich -- da werde ich aber die Einzelheiten weglassen. Es war vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt Österreichs, 1994. Wir haben ein Sonderheft veröffentlicht, "Die Konsequenzen des Beitritts". Eine davon war, dass er das Budget belasten würde. Da wurde uns massiv gesagt, dass wir das nicht schreiben dürfen. Das wurde bei Todesstrafe verboten von der Regierung.

STANDARD: Was haben Sie getan?

Kramer: Wir haben dann zwei, drei Absätze anders formuliert. Das ist aber ein Sündenfall, das sehe ich jetzt noch immer so. Aber als Chef hat man auch Verantwortung. Ich kann in edler Gesinnung sterben. Ich habe hundert Arbeitsplätze, die in Schwierigkeiten geraten. Das muss man sich gut überlegen. Die Prognosen des Wifo sind auch nicht auf den Cent genau, es könnte ja auch anders kommen. Daher habe ich damals gesagt, formulieren wir das doch vorsichtiger.

STANDARD: Wer war der beeindruckendste Politiker für Sie?

Kramer: Kreisky etwa. Ich hatte nicht allzu viel mit ihm zu tun, aber doch. Wir hatten auch Konflikte, weil das Wifo kritisch infrage stellte, ob wir ein Uno-Zentrum an der Donau brauchen. Wir meinten, dass man das Geld ins Bildungssystem investieren sollte. Da war er sehr böse. Ich hatte auch immer eine hohe Meinung, sowohl menschlich als auch fachlich, von Franz Vranitzky, Wolfgang Schüssel wie auch von Hannes Androsch.

Bruno Kreisky war eine der eindrucksvollsten politischen Persönlichkeiten, sagt Kramer. Aber auch mit ihm lag er im Clinch.
Foto: Nora Schuster

STANDARD: Mit Karl-Heinz Grasser hatten Sie ein besonderes Verhältnis ...

Kramer: Ich habe mich von Anfang an nicht mit ihm verstanden. Er hat mir vorgeworfen, einer meiner Vorgänger sei Friedrich August von Hayek. Er fragte mich: Und was ist jetzt aus der österreichischen Ökonomie geworden? Ich sagte, dass Hayek wichtig sei, die heutige Welt aber weitaus komplexere Probleme zu bewältigen habe als noch zu seiner Zeit.

STANDARD: Wie hat er reagiert?

Kramer: Er hat sich nicht überzeugen lassen. Grasser hat dann eher meinen Kollegen beim Institut für Höhere Studien, Professor Felderer, konsultiert, der ihm wahrscheinlich weniger direkt Kontra gegeben hat. Es war eine von Grassers Grundüberzeugungen, ein Finanzminister zu sein, der für die Freiheit des Marktes eintritt.

STANDARD: Dafür gibt es jetzt ja einige andere Institute, die privat finanziert werden, die Agenda Austria etwa, Eco Austria, das Hayek-Institut. Wie sehen Sie die?

Kramer: Ich versuche zwischen einer Lobbyfunktion zu trennen, die einige einnehmen, die ganz eindeutig Interessen vertreten, und anderen, die durchaus seriöse Arbeit machen. Ich bewundere in mancher Hinsicht, was Herr Schellhorn bei der Agenda Austria zustande bringt. Da sind ziemlich gute Leute dabei. Auch wie sie es anbringen ist sehr professionell. Manche andere sind ein bisserl weniger ernst zu nehmen.

Die Flaggen Österreichs und der EU am Heldenplatz: Vor der Volksabstimmung 1994 wurde im Wifo heftigst interveniert.
Foto: apa / barbara gindl

STANDARD: Während Ihrer Zeit als Wirtschaftsforscher und Politikberater ist der Eiserne Vorhang gefallen, Österreich ist der EU beigetreten, hat sich wirtschaftlich geöffnet und den Schilling abgegeben. Was war das prägendste Ereignis?

Kramer: Der Zusammenbruch des Ostblocks. Die EU hat dann endlich einen Anlauf unternommen, den Binnenmarkt zu vollenden, begonnen, am Euro zu arbeiten, Deutschland konnte sich wiedervereinen und Österreich der EU beitreten, weil mit keinem Widerstand der Sowjets mehr gerechnet werden musste. Die Zeit zwischen 1990 bis zu meinem Ende beim Wifo, 2005, war wohl die aufregendste in den letzten 50 Jahren.

STANDARD: Nach mehr als 20 Jahren EU-Mitgliedschaft: Was hat der Beitritt wirtschaftlich ausgelöst?

Kramer: Österreich hat sich sehr, sehr gut geschlagen. Die Befürchtung, dass wir von europäischen Konzernen an die Wand gedrückt werden, hat sich nicht bewahrheitet. Das Gegenteil ist eingetreten, die Industrie hat an Qualität und an Märkten hinzugewonnen.

STANDARD: Wenn man die Debatte vor dem Beitritt verfolgt, dann tauchen Parallelen zum Umgang mit heutigen Handelsabkommen auf.

Kramer: Ja, das ist hochinteressant. Ich erinnere mich vor dem Beitritt gut an die Widerstände, mit denen Franz Vranitzky in der Sozialdemokratie zu kämpfen hatte. In der Partei und vor allem in den Gewerkschaften war die Stimmung, wir werden unter die Räder der kapitalistischen Großkonzerne kommen. Ich habe mit Vranitzky einmal ein Wochenende in Baden verbracht, wo wir das besprochen haben. Er hat danach, aber nicht deswegen, eindeutig den Beitritt im Namen der SP unterstützt.

Helmut Kramer war Wifo-Chef, als der Schilling abgeschafft wurde.
Foto: apa / schlager

STANDARD: Vor der Einführung des Euro haben 155 deutsche Ökonomen ein Manifest dagegen verfasst. Sie haben das damals kritisiert. Wie sehen Sie das heute?

Kramer: Ich tue mir ein bisschen schwer, das einzuräumen, aber ich muss fair sein: Ich hatte nicht recht. Es war einer meiner großen Denkfehler, vielleicht der größte, dass ich die Einführung des Euro auch für Italien und andere Südländer für eine gute Idee hielt.

STANDARD: Warum?

Kramer: Vor der Einführung des Euro gab es einen Klub an Hartwährungsländern. Die waren es gewohnt, mit der D-Mark mitzuziehen. Österreich war dabei. Anfang der 80er-Jahre brauchten wir ein, zwei Jahre, um uns auf eine harte Währung und die Vorgabe eines Wechselkurses einzustellen. Und Österreich ist kein übertrieben diszipliniertes Land. Aber bei uns haben sich die Sozialpartner, die Gewerkschaft, die Nationalbank und die Regierung auf eine Strategie geeinigt. Ich dachte, die Italiener schaffen das auch. Ein Fehler. (Andreas Sator, 25.5.2017)