Wittenberg wird an diesem Wochenende und am 31. Oktober 2017 im Zentrum der Weltöffentlichkeit stehen, wenn 500 Jahre Reformation gefeiert werden. Nun fallen aber dunkle und lange Schatten auf dieses Fest und diesen Ort. In Wittenberg gibt es eine wöchentliche Mahnwache gegen das "Judensau"-Steinrelief an der Außenseite der Stadtkirche St. Marien. Ziel ist es, dass die antisemitische Schmähskulptur noch innerhalb dieses Jahres fachgerecht entfernt werde, erklärte das neugegründete "Bündnis zur Abnahme der Judensau im Reformationsjahr 2017". Die 1988 von der evangelischen Gemeinde im Boden vor der Stadtkirche eingelassene Gedenktafel sei lange nicht ausreichend.

Bild nicht mehr verfügbar.

Über dieses "Judensau"-Relief an der Außenseite der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg wird heftig diskutiert.
Foto: Schütze / akg-images / picturedesk.com

Das Bildmotiv "Judensau" gehört seit dem Mittelalter zu den übelsten Schmähungen des Judentums. Noch heute finden sich entsprechende Darstellungen an rund 30 evangelischen und katholischen Kirchen in Mitteleuropa. Geht es nach der zuständigen evangelischen Landesbischöfin Ilse Junkermann, müsste "diese Wunde unserer eigenen Geschichte offengehalten werden".

Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist ganz anderer Auffassung. Und Präsident Josef Schuster sagte auch, die Platte helfe wenig zum historischen Verständnis des antisemitischen Reliefs. "Der Jude" erscheint darin als "widerwärtige Kreatur". Zudem trägt das Motiv den Titel Ha-Schem Ha-Mephorasch / Sem ha-Meforas (hebräisch "der unverstellte Name"), es bringt also einen jüdischen Namen des Allerheiligsten und das Judentum als solches mit dem Tier in Verbindung.

Martin Luthers antijudaistische Schmähschrift von 1546 mit dem Titel Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi deutete das Wittenberger Motiv ja entsprechend: "Hinter der Saw stehet ein Rabin, der hebt der Saw das rechte Bein empor, und (...) kuckt mit grossem vleis der Saw in den Thalmud hinein."

Geschichtliche Verantwortung

Am 24. April 1990 sagte die Synode der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg leider auch: "Sofern die Kunstwerke (!) an ihrer Stelle verbleiben, sollte der Betrachter durch Hinweise (...) auf Schuld und Betroffenheit der Kirche aufmerksam gemacht und zu neuer Sicht angeleitet werden."

Nun ist aber dieses Relief kein Kunstwerk, sondern schlicht und einfach Teil der Hass- und Vernichtungspropaganda, die schließlich zur Shoah führte. Die Nationalsozialisten aktivierten seit 1919 mittelalterliche antijudaistische Stereotype, die das "Judensau"-Motiv mit Ritualmordlegenden, Motiven von Juden als "Blutsaugern" und dem "Satan" verbunden hatten, gezielt für ihre Propaganda.

Die enorme geschichtliche Verantwortung der evangelischen Kirchen in den deutschsprachigen Ländern für den Nationalsozialismus ist nicht so einfach vom Tisch zu wischen. In evangelischen Wahlbezirken war schließlich der Stimmenanteil der NSDAP bei den letzten freien Wahlen in Deutschland vor Hitlers Machtübernahme bei 60 Prozent, in den katholisch geprägten Bezirken in Bayern und im Rheinland nur bei 20 Prozent.

"Luther war ein großer Mann, ein Riese", sagte Adolf Hitler bereits 1923. Der Herausgeber des Stürmer, Julius Streicher, bemühte sich während der Nürnberger Prozesse, seine Dekaden der Hetze gegen die Juden mit dem Reformator zu legitimieren.

Wer an der Wand der Wittenberger Kirche weiter einen solchen Diskurs gewährt, macht sich sehr wohl in Deutschland (§ 185 Strafgesetzbuch) in erheblichem Maße strafbar. In diesem konkreten Fall kommt in Deutschland auch eine mögliche Ahndung wegen Volksverhetzung (§ 130) in Betracht; ebenso wird in internationalen Rechtsnormen – darunter auch in Deutschland und Österreich – Kreditschädigung schwer geahndet.

Bei einer Demonstration am 24. Mai in Berlin wurde an Martin Luthers antijudaistische Schmähschrift von 1546 erinnert.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Ich gehe davon aus, dass die sich hier abzeichnende Grundkonstellation leider eine wachsende Unwilligkeit in vielen Sektoren der Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik andeutet, sich weiterhin der kollektiven historischen Verantwortung für die Shoah zu stellen. Am 24. 8. 2016 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung sogar von der "Tyrannei der Beleidigten" im Kontext des Wittenberger Reliefs. "Nun gerät sie (die Aufklärung, Anm.) zunehmend durch die traditionsfeindlichen Zuchtmeister der politischen Korrektheit in Gefahr, die sich selbst auf die Aufklärung berufen und als Avantgarde der Weltoffenheit sehen, aber in ihrer Selbstgewissheit und Intoleranz den verstocktesten religiösen Fanatikern ähneln. Damit steht viel auf dem Spiel: der Reichtum der Denkmallandschaften und des in Literatur und Brauchtum überlieferten Kulturerbes – und vielleicht vor allem die Fähigkeit, Bilder, Begriffe und Denkmuster der Vergangenheit in kritischer Distanz historisch einzuordnen, sie für uns produktiv zu machen und von ihnen zu lernen, statt sie als unzumutbar ausradieren zu wollen."

Wie das Relief von Wittenberg den Reichtum der Denkmallandschaften und des in Literatur und Brauchtum überlieferten Kulturerbes darstellt und wie das Wittenberger Relief "für uns produktiv" gemacht werden kann, sagt die FAZ zwar nicht, es lässt aber Böses, sehr viel Böses für das künftige geistige Klima in Deutschland erahnen. Die evangelische Kirche täte gut daran, sich der Traditionen Bonhoeffers zu entsinnen. (Arno Tausch, 26.5.2017)