Die wichtigste Wahl findet Ende Februar kommenden Jahres statt. Das ist die Landtagswahl, in der Johanna Mikl-Leitner an den Erfolgen des Langzeit-Landeshauptmanns Erwin Pröll gemessen werden wird. Die zweitwichtigste Wahl kommt dann erst im Jänner 2020, da werden die Gemeindevertreter neu gewählt.

So sieht der Wahlkalender aus der Sicht eines niederösterreichischen ÖVP-Funktionärs aus. Und, ja, natürlich: Vorher, am 15. Oktober, wird ein neuer Nationalrat gewählt. Einer, der es laut Umfragen dem ÖVP-Bundesparteiobmann erstmals seit elf Jahren ermöglichen könnte, auch Regierungschef zu werden.

Neuer Parteichef: Sebastian Kurz
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Aber das ist aus der Sicht eines kleinen niederösterreichischen Funktionärs nicht die erste Priorität. Und ähnlich sehen wohl die politischen Perspektiven eines Tiroler oder Salzburger ÖVP-Mitarbeiters aus – in allen drei Ländern stehen im kommenden Frühjahr Landtagswahlen an.

Die Funktionärspartei

Landtags- und Gemeinderatswahlen, das sind für viele Schwarze die eigentlichen Wahlen. Die Volkspartei ist nämlich wie keine andere Partei im Land vom Föderalismus, vielleicht noch mehr vom Regionalismus geprägt. In den Gemeinden, da kann man konkret Politik machen. In den Teilorganisationen, da kann man konkrete Interessen vertreten, kann für seine Leute in die Sozialpartnerorganisationen hinein wirken.

Dort sind auch politische Erfolge zu holen: Der kleine Funktionär ist eben ziemlich groß, wenn er die Anliegen, die ihm am Stammtisch, auf dem Feuerwehrfest oder bei einer Seniorenjause zugetragen worden sind, abarbeiten und die Probleme lösen kann. Die Bürger interessiert in der Regel vor allem, dass ein klappernder Kanaldeckel vor dem Schlafzimmerfenster repariert wird. Wer im fernen Wien regiert, ist vergleichsweise nicht so wichtig wie die Verkehrsanbindung des eigenen Dorfes oder die Bearbeitung eines Förderansuchens, für das man mühevoll ein Dutzend Bescheinigungen aufgetrieben hat.

Wenn da der Gemeinderat, der Bürgermeister, der Kammerfunktionär helfen kann, dann ist das für den Funktionär ebenso befriedigend wie für den, dem geholfen wird. Und wenn sich gar ein Landespolitiker für diese oder jene Rechtsposition, für diese oder jene Trassenführung einer Straße, für diesen oder jenen Regionalentwicklungsplan einsetzt, dann ist das das Maximum des Ausmaßes, in dem der gewöhnliche Bürger mit Politik zu tun bekommt.

Und es ist traditionell die ÖVP, die hier Stärke zeigt. Keine andere Partei verfügt über ein so weitverzweigtes Netzwerk – aber auch bei keiner anderen Partei ist dieses Netzwerk so sehr auf die lokalen und regionalen Bedürfnisse zugeschnitten.

Für die Landesparteien bedeutet das, dass man in der jeweiligen Landesparteizentrale in der Regel innerhalb von 24 Stunden weiß, wenn irgendwo lokaler Unmut aufkommt – und umgekehrt innerhalb weniger Stunden gezielte, regional zugeschnittene Kampagnen starten kann. Die lokalen Funktionäre, üblicherweise fest in zumindest einer der sechs Teilorganisationen verankert, sind auch in eigenem Interesse auf Zack: Allein in Salzburg haben die diversen ÖVP-Organisationen 5000 mehr oder weniger engagierte Funktionäre, davon etwas mehr als 1000 mit einem Sitz im Gemeinderat. Bundesweit hat die ÖVP rund 20.000 Gemeindemandatare – das ist die Personalreserve, aus der sie die 131 Landtagsmandatare (von insgesamt 440) und 22 Bundesräte (von insgesamt 61) rekrutieren kann.

Es sind die Landesorganisationen – jene der Bünde, aber auch jene der aus den Bünden gebildeten Landespartei –, die die eigentlichen Machtzentren der Volkspartei darstellen. Sie verfügen nämlich nicht nur über die Kampagnenfähigkeit, sondern auch über das Geld.

Die Obmannpartei

Für jeden Bundesparteiobmann (und alle anderen Funktionäre auf Bundesebene, mit Ausnahme vielleicht des Klubobmanns, dessen politische Aktivität über die Klubförderung finanziert wird) ist es daher notwendig, die Landesparteien hinter sich zu wissen: Bundesweite Wahlkämpfe werden zwar von Wien aus geführt, finanziert werden sie aber zu einem beachtlichen Teil durch die Beiträge der Landesparteizentralen.

Aus der Perspektive der ÖVP-Landesparteien schaut die Bundespolitik ganz anders aus, als sie die Medien wahrnehmen: Da zählt nämlich erstens, dass die lokal dichten Netze an Bundesfunktionären aus dem eigenen Stall angebunden sind – und zwar wieder um in allen Gliederungen. Da schauen Bauernbündler darauf, dass innerhalb des Bauernbunds nicht eine Landesorganisation (wie etwa die mitgliederstarken und straff geführten Niederösterreicher) zu stark wird, dass aber gleichzeitig Bauernbündler mit regionaler Verankerung ihre Sitze in Parlament und Regierung bekommen. So ist Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter gleichzeitig Exponent des Bauernbunds (zum Linzer Parteitag reist er bezeichnenderweise mit Zwischenstopp auf dem Bauerntag der Wieselburger Messe an) und Vertreter der Tiroler ÖVP im Team von Sebastian Kurz.

Zweitens ist aus Sicht der Landesparteien vor allem wichtig, die nächsten Landtagswahlen zu gewinnen – um die Position des Landeshauptmanns und die Verfügungsgewalt über die Landesbudgets zu erhalten. Bundespolitik hat aus dieser Perspektive die Aufgabe, die Landesbudgets zu dotieren, prestige- und arbeitsplatzträchtige Projekte im jeweiligen Bundesland zu verwirklichen und ansonsten für eine gute Stimmung für die Volkspartei zu sorgen.

Wenn etwa die Landesbürger über die Steuerlast (die Gestaltung des Steuersystems und die Einhebung der Steuern ist bequemerweise Bundessache) stöhnen, dann wird der Landeshauptmann oder die Landeshauptfrau beim Finanzminister protestieren. Auf Parteizugehörigkeit wird da keine Rücksicht genommen – und der Bundesparteiobmann hat sich dem Protest natürlich mehr oder weniger öffentlich anzuschließen und den Finanzminister zur Räson zu bringen.

Was zu einem Konflikt mit einem anderen Landesparteichef führen kann; nämlich mit demjenigen, der den Finanzminister als "seinen Mann" in die Regierung nominiert hat.

Archivbilder der ÖVP-Parteiobmänner 1945-2017: Leopold Kunschak (1945), Leopold Figl (1945-1952), Julius Raab (1952-1960), Alfons Gorbach (1960-1963), Josef Klaus (1963-1970), Hermann Withalm (1970-1971), Karl Schleinzer (1971-1975), Josef Taus (1975-1979), Alois Mock (1979-1989), Josef Riegler (1989-1991), Erhard Busek (1991-1995), Wolfgang Schüssel (1995-2007), Wilhelm Molterer (2007-2008), Josef Pröll (2008-2011), Michael Spindelegger (2011-2014) und Reinhold Mitterlehner (2014-2017).

Jedem ÖVP-Chef war bisher bewusst, dass es diese Abhängig keiten gibt – ohne den Rückhalt in den Landesorganisationen und den Bünden hat er keine Chance. Auch Sebastian Kurz kennt das Problem gut, er war ja lange genug Chef einer Teilorganisation. Aber eben nicht eines klassischen Bundes, sondern der Jungen ÖVP. Diese ist in der Partei als Rekrutierungsbasis, als Wahlkampfhilfe und als Sprungbrett für eine Karriere in einem der drei traditionellen Bünde wohlgelitten. Aber innerparteiliches Gewicht hatte die JVP ähnlich wenig wie die Frauenbewegung und der Seniorenbund. Die sozial integrative Struktur sollte bei der Gründung der ÖVP 1945 durch die damals bedeutenden Gruppen Bauernbund, Arbeiter- und Angestelltenbund sowie Wirtschaftsbund gewährleistet werden.

Und schon wenige Monate danach, im Sommer 1945, versuchten weitsichtige Funktionäre rund um den damaligen Generalsekretär Felix Hurdes, die Bundespartei im Verhältnis zu den Bünden und den Ländern zu stärken. Auf der anderen Seite standen der Bauernbündler Leopold Figl (der kurz danach Parteiobmann und Bundeskanzler wurde), der Wirtschaftsbündler Julius Raab (der Figl später entthronte) und der ÖAABler Lois Weinberger, der in Vertretung von Leopold Kunschak provisorischer Parteichef war. Die Bündesobleute setzten sich durch.

Und die Vertreter der Bundesländer fixierten ihre Interessen – verständlich in einer Zeit, in der der Osten Österreichs inklusive Teilen der Bundeshauptstadt von sowjetischen Truppen besetzt war. Heute aber würde man wohl eher Hurdes folgen.

Sebastian Kurz versucht nun, diese uralten Strukturen aufzubrechen. Das wirkt modern, das entspricht sicher dem Zeitgeist. Aber es ist nicht der erste Versuch. Tatsächlich hat sich keine andere Partei so oft der inneren Reform verschrieben wie die ÖVP. Vergeblich. Vor Kurz haben schon andere Parteichefs Durchgriffsrechte bei Listenerstellungen und anderen Personalentscheidungen gefordert – und allenfalls unverbindliche Zusagen bekommen.

1979 etwa ist Josef Taus als Parteiobmann zurückgetreten, weil man ihm die gewünschten Vollmachten nicht erteilt hat.

Die Partei der Zweifler

Die angesprochenen Rollenverteilungen in der ÖVP, speziell die Rolle der Bünde, wurden jedenfalls schon damals als möglicher Ballast erkannt – und mit einem aus dem Leben gegriffenen Beispiel in der Theoriezeitschrift der Jungen ÖVP, Junge Initiativen, beschrieben: "In der Gemeinde nämlich ist die ÖVP nicht Volkspartei, in der Gemeinde schon beginnen die bündischen Probleme. In zig, ja vielleicht hunderten Gemeinden ist der Bauernbund-Obmann gleichzeitig Partei obmann und Bürgermeister. In vielen Fällen ist dann der Wirtschaftsbund-Obmann der, bei dem die Leute im Ort weit weniger verdienen, als wenn sie pendeln würden. Schließlich ist oft der ÖAAB-Obmann auch einer von der sogenannten ‚oberen Schicht‘ des Ortes, also Lehrer oder gar Direktor. Wenn es sich nun dabei nicht um außergewöhnliche Persönlichkeiten handelt, kann sich eine Mehrheit in der Gemeinde mit diesen Personen schwer identifizieren."

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Diese Analyse, die noch heute in etlichen Gemeinden zutreffend sein dürfte, stammt von einem gewissen Hermann Schützenhöfer, der damals vom ehrenamtlichen Landesobmann der steirischen JVP zum hauptamtlichen Sekretär des Landes-ÖAAB aufstieg. Heute ist er Landeshauptmann – und damit einer von denen, die über das Wohl und Wehe der Liste Kurz am 15. Oktober entscheiden.

Die Zweifel, die Schützenhöfer vor 38 Jahren geäußert hat, sind typisch für die Volkspartei. Viele spüren, dass man es als christlichsoziale Partei auch anders machen könnte – immer wieder wurde die Meinung geäußert, dass es eigentlich einer Neugründung bedürfe.

Kurz ist in dieser Frage einen Kompromiss eingegangen: Er weiß, wie wichtig die Parteiorganisation für die breite Mobilisierung ist; er weiß, dass er die Partei bei Laune halten muss. Aber auf der anderen Seite weiß er wohl auch, dass die ÖVP_unter ihrem Image als reine Interessenver treter von Bauern, Beamten und allenfalls wohlhabenden Wirtschaftstreibenden (die sicherheitshalber auch bei FPÖ und Neos freundliche Gesichter machen und wohl auch die eine oder andere Spende hinterlassen) leidet. Also muss er sie breiter aufstellen, seine Liste mit Menschen von außerhalb füllen und seine Wahlbewegung jenseits der Schwarzen positionieren.

Er tut es in türkiser Farbe. Das mag wieder den einen oder anderen Zweifler auf den Plan rufen – aber der Zweifel ist ohnehin bürgerlich. Das Kalkül des Kurz-Teams ist, dass die Zweifler eben auch im Zweifel die Liste Kurz wählen werden.

Die Partei der Ideologen

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich die gesamte Politik der ÖVP nur um Posten und Bündemacht drehen würde. Damit aber täte man den Schwarzen unrecht. Im kleinen Kreis machen sich einige aktuelle Exponenten (etwa der emsig publizierende Wissenschaftsminister Harald Mahrer) und viele gereifte Funktionäre durchaus Gedanken darüber, ob es nicht eine höhere Raison d’être der Volkspartei gibt. Immerhin hat sie vor ziemlich genau zwei Jahren – nach einem jahrelangen "Evolutionsprozess" – ein neues Parteiprogramm beschlossen.

Sebastian Kurz Neuwahlankündigung.
derStandard.at

Vor einigen Wochen saßen alte Parteifreunde rund um einen ehemaligen Parteichef bei Wein und Bier zusammen und erörterten den Zustand der Partei – und ihrer mit dem jüngsten Programm ziemlich beliebig gewordenen Ideologie. Wo, etwa, bleibe der Gedanke der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, das Ziel der Beteiligung der Arbeitenden an den Produktionsmitteln und den Kapitalerträgen? Die ÖVP sei – in Abkehr von ihren seit 1945 vertretenen Werten – eben keine Partei des breiten Eigentumsbegriffs mehr, war am Tisch zu hören.

Woraufhin der Ex-Parteiobmann in die Tasche griff und das aktuelle Parteiprogramm herauszog. Staunen: Es gibt Menschen, die das Parteiprogramm stets zur Hand haben! Staunen auch, dass das nun Wort für Wort studiert wurde, Wein und Bier konnten warten: Ja, natürlich steht da noch die Förderung des Wohnungseigentums drinnen – aber vom Aufbau von Unternehmensbeteiligungen (von einer Wirtschaftsbündlerin unter aktivem Wegschauen des ÖAAB mit der Einführung der Kapitalzuwachssteuer verraten) ist entgegen den Evolutionsplänen nichts im Parteiprogramm übrig geblieben.

Die Partei der Pragmatiker

Nun zeigt die Erfahrung, dass sich nicht alle Wähler an Parteiprogrammen orientieren, wenn sie ihre Stimme abgeben. Und dass sich nicht alle Politiker an Parteiprogramme gebunden fühlen, wenn es daran geht, etwa ein Koalitionsabkommen zu schließen. Wolfgang Schüssel hatte 1999 erkannt, dass seine Partei nach einer weiteren Wahlniederlage nicht noch einmal mit der SPÖ koalieren sollte – er stellte die Weichen auf Oppositionskurs.

Die früheren ÖVP-Obmänner Wolfgang Schüssel, Wilhelm Molterer, Josef Pröll und Michael Spindelegger im Jahr 2014.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Was dem bisherigen Koalitionspartner SPÖ ebenso wenig gefiel wie manchen pragmatisch denkenden Landesparteichefs, denen eine noch so schwach in der Bundesregierung verankerte ÖVP als Ansprechpartner in Wien lieber ist als ihre Bundespartei in Opposition. Die Oppositionsphase 1970 bis 1987 war vielen noch in schlechter Erinnerung. Also verhandelte Schüssel erst mit Rot und dann mit Blau – um für viele überraschend im Jahr 2000 als Kanzler eine schwarz-blaue Regierung zu etablieren.

Auch das war nicht allen in seiner Partei recht – das internationale Naserümpfen über die freiheitliche Regierungsbeteiligung, das in den ersten Monaten grottenschlechte Image Schüssels im In- und Ausland ließen viele Schwarze zweifeln. Gerüchte über eine Spaltung der ÖVP machten die Runde. Schüssel verlegte sich darauf zu schweigen und Fakten zu schaffen (Stichwort: "Jede Woche eine Reform"). Am Ende stand 2002 der größte Stimmen zuwachs, den eine Partei je in der Zweiten Republik verbuchen konnte.

Die Pragmatiker in der Partei hatten recht bekommen. Allerdings ging die Mehrheit 2006 wieder verloren. In den Umfragen erlebt die Volkspartei seither ein stetes Auf und Ab – immerhin vier Schüssel-Nachfolger hat sie inzwischen verbraucht. Allesamt wurden sie zunächst als Wunderwuzzis gefeiert, um dann im Pragmatismus zu erstarren und schließlich von den Zweiflern abmontiert zu werden.

Am Samstag also trifft sich die ÖVP in Linz, um einen neuen Wunderwuzzi zu installieren. Und um sich – was man ebenfalls von früheren Parteitagen kennt – als "neue Volkspartei" zu präsentieren. Was einem Schwarzen wirklich wichtig ist, ändert sich dadurch wohl nicht. (Conrad Seidl, 1.7.2017)