Vor kurzem wurde ich 57 Jahre alt. Es war kein schöner Geburtstag, denn ich verbrachte ihn in einem Istanbuler Gerichtssaal. Es war der erste Prozesstag gegen Nazli Ilicak, eine 73-jährige Journalistin und gute Freundin von mir. Nach dem Militärcoup am 15. Juli wurde Nazli von der Polizei verhaftet, seit elf Monaten sitzt sie mittlerweile ohne konkrete Anklage im Gefängnis. Wie so viele andere Journalisten wird sie von der Erdogan-Regierung verdächtigt, mit den Hintermännern des Militärcoups im Juli 2016 zusammenzuarbeiten und eine verdeckte Terroristin zu sein. Der Hintergrund: Am Tag vor dem Militärcoup hatte sie zwei kritische Journalisten in ihrer TV-Sendung zu Gast, die genau wie Nazli nach dem Coup verhaftet wurden.

Am Ende des Prozesstages beschloss der Richter die Untersuchungshaft von Nazli bis zur nächsten Anhörung im September zu verlängern – wiederum ohne konkrete Anklage. So ist das in einem Land, in dem ein autoritäres Regime an der Macht ist: Wir leben in einer Atmosphäre der ständigen Angst, unsere Freiheiten werden nach und nach beschnitten, wir erleben Verstöße gegen Menschenrechte, wir bangen um unsere Arbeitsplätze.

Eigentlich waren Nazli und ich immer völlig unterschiedlicher Meinung. Sie war stets eine Erdogan-Anhängerin – bis zu dem Tag, als sich die Gülen-Bewegung und die Erdogan-Partei überwarfen und getrennte Wege gingen. Nazli Ilicak war nie eine glühende Anhängerin von Fethullah Gülen. Aber sie arbeitete für Medien, die von ihm finanziert wurden, und diese Journalisten stehen im Verdacht, übertrieben kritisch über Erdogan zu berichten.

So wie Nazli ergeht es derzeit tausenden Kurden, Oppositionellen und jenen, die in einem gewissen Naheverhältnis zu Fethullah Gülen stehen: Sie verlieren ihre Jobs oder werden einfach so eingesperrt. Auch die größte Oppositionspartei CHP ist im Visier: Ihre Mitglieder gelten als verdeckte Terroristen, der von der CHP organisierte "Marsch der Gerechtigkeit" wurde von Erdogan als "Störung der öffentlichen Ordnung" in den Medien dargestellt.

Die Lage ist also dramatisch. Und trotzdem will ich keinesfalls jammern. Denn bei aller Kritik am Erdogan-Regime mache ich für die Ausweitung seines autoritären Machtapparats in der Türkei auch jene Demokraten, Intellektuellen und Oppositionellen verantworlich, die den ganzen Tag nur lamentieren, für alles immer einen Schuldigen parat haben, die aber am aktiven politischen Leben und am Kampf für die Demokratie partout nicht teilnehmen möchten. Es gibt relativ viele faule Demokraten in der Türkei.

Viele Jahre herrschte hier ein säkulares autoritäres Regime: die Militärregierung. Sie ebnete letztlich den Weg für ein konservativ-religiöses Regime. All diese autoritären Bewegungen sind kollektive Verbrechen. Für deren Entstehung und Machterhalt braucht es mächtige Geschäftsleute, verbündete Medien, Opportunisten, die sich mit den Autoritären einlassen – und es braucht möglichst viele "faule Demokraten". (Nuray Mert, 6.7.2017)