Wien – Ein alter Mann lenkt einen Wagen auf einer Dorfstraße am Rande einer Wüstenlandschaft. Dann sieht man ihn an einer Tankstelle. Auf dem nächsten Bild steht er mit einer Frau am Feldrand, auf den folgenden sind beide in einem Zimmer, sie liegen auf einer Couch. Bruce Davidson schoss diese Fotos des Ehepaars Wall (er 94, sie 79), als er als junger Soldat in Arizona stationiert war. Mit ihnen beginnt die Retrospektive, die die Westlicht-Galerie zurzeit dem großen amerikanischen Fotografen widmet.

Es sind nicht seine ersten Bilder. Schon als Kind war Davidson von der Arbeit in der Dunkelkammer fasziniert, als Dreizehnjähriger bekam er eine Kleinbildkamera, und seine Abschlussarbeit für Grafikdesign an der Yale-Universität – Fotos vom Footballteam der Uni – wurde vom Magazin Life veröffentlicht. Die frühen Arbeiten haben etwas gemeinsam, was auch hinkünftig den Fotografen Davidson auszeichnen sollte: Es sind Serien, die Geschichten erzählen, vom Alltag handeln, von der Dynamik zwischen Menschen und ihrer Umgebung. Es sind nicht große Ereignisse, eher geht es um die Mühen der Ebene.

Davidson, 1933 in Chicago geboren und seit den späten 1950er-Jahren in New York zu Hause, wird oft unter die Besten der Street-Photography gereiht. Das stimmt, wird ihm aber nur teils gerecht. Denn das Anliegen der Jäger mit der Leica im Anschlag, das Panoptikum der rasenden urbanen Moderne einzufangen, ergänzte er durch "langsame" psychologische Studien. Etwa bei Porträts der "Witwe von Montmartre".

Er lernte Madame Fauché kennen, als er Soldat und in Paris stationiert war. Das Stadtviertel hätte einen prickelnden Hintergrund abgeben können, doch er konzentrierte sich auf das stille, von den Gemälden des verstorbenen Mannes umgebene Leben der Frau. "Ich bleibe lange dran", wird er zitiert, "da ich nach dem einen Bild suche, das ich nie finde." Bald danach wurde er in die Fotoagentur Magnum aufgenommen, vielleicht heute noch der Olymp der Bildjournalisten. Sie ermöglichte ihm den Zugang zu großen Illustrierten, die Platz für Fotostorys hatten.

Esquire etwa veröffentlichte seine Reportage über den Zirkusclown Jimmy. Davidsons Blick auf das Leben dieses Außenseiters war so illusionslos und zugleich so empathisch, dass die Bilder im Wortsinn zu Ikonen eines neuen Verständnisses der vorgeblich lustigen Unterhaltungswelt gerieten.

Noch bekannter wurde die Serie über das Leben von Großstadt-Teenagern, Brooklyn Gang (1959). Dabei entstand etwa das wunderbare Bild von Cathy mit ihrem Freund: sich schön machen im Spiegel des Zigarettenautomaten, die Ärmel hochkrempeln, die leeren Flaschen, die Bewegungen im Hintergrund – und das alles im richtigen, im "entscheidenden Moment" festgehalten, wie es Davidsons Mentor Henri Cartier-Bresson gern tat. Selten wurde das Lebensgefühl jener Wild Ones, der Rebels without a cause im Blackboard-Jungle so konzentriert und unspektakulär festgehalten. Robert Frank und William Klein kommen einem am ehesten als Vergleich in den Sinn.

Für Life enthielten die Bilder aus Brooklyn zu wenig Hoffnung. "Ich sehe keine", so Davidson. Er sollte recht behalten, wie man an den weiteren Schicksalen der Gangmitglieder, im Katalog beschrieben, sehen kann. Davidson reiste für Reportagen nach Großbritannien und Mexiko. Er hielt die ersten Protestmärsche der Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten fest. Er arbeitete für die Werbung und für Jahresberichte. Besonders gern aber erkundete er New York, wo er heute noch lebt.

Unter diesen Arbeiten sticht seine erste Monografie (1970) über das Leben in der East 100th Street hervor. In den Innen- und Außenansichten dieser Straße in Harlem spiegelt sich eine eigene Welt, an den Wänden bezeugen es Bilder in den Bildern: Hochzeitsfotos, Jesus, Blumenherzen, Kruzifixe, John F. Kennedy. Dieser und etlichen weiteren Erzählungen von Bruce Davidson gibt Westlicht gebührenden Raum.

Man betrachtet sie mit Bewunderung – und mit Bedauern darüber, dass für solche großangelegten Projekte kaum noch Platz ist. Außer in Galerien. (Michael Freund, 10.7.2017)