Lange bevor die Diagnose multiple Sklerose gefällt wird, weiß Renata, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung ist. Heute kreuzt sie in einem elektrisch betriebenen Rollstuhl durch Sutivan.

Foto: Bogumil Balkansky

Diesen Winter verbringt Slavica im Spital in Zagreb. Dort wartet sie auf eine Spenderleber. Es wird eine Bilderbuch-Transplantation und eine Bilderbuch-Rehab.

Foto: Bogumil Balkansky

Wenn Ivo Silas Gajeta mit einer Plane bedeckt ist, weiß jeder in Sutivan, dass Regen unvermeidlich ist.

Foto: Bogumil Balkansky

Manchmal beginnt mein Sommer in Sutivan traurig. So wie der letzte, als man mir sagt, Tante Jasmina habe ihren letzten Atemzug in einem kalten Züricher Krankenhaus getan. Sie wird nie wieder durch ihren verzauberten Garten gehen, den gewundenen Weg zu ihrer Veranda hinauf, wo sie immer sitzt und zusieht, wie der Maestral zu Mittag das Meer in Bewegung bringt. Doch dieser Sommer beginnt nicht mit einer traurigen Gewissheit, sondern mit drei frohen!

Renata lebt!

Alle hier in Sutivan nennen sie nur "Renči", und es gibt niemanden, der sie nicht kennt. Das ist auch kein Wunder, weil sie in einem elektrisch betriebenen Rollstuhl durch Sutivan kreuzt und jeden zur Seite schubst, der ihr nicht schnell genug aus dem Weg geht. Deswegen und wegen einiger anderer Gründe, die hier ungenannt bleiben sollen, mag sie hier auch fast niemand. Ich schon.

Lange bevor die Diagnose multiple Sklerose gefällt wird, weiß Renata, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung ist. Damals, Ende der 80er-Jahre, reitet sie noch jeden Tag auf ihrem Maultier in die Felder ihrer Familie, die auf den Hügeln über Sutivan verteilt sind. Während wir anderen Kids gerade volltrunken aus der Disco wanken, ist sie bereits in einem Olivenhain, bindet das Maultier fest und befreit es vom "Samar", wie man hier zum Tragesattel der Maultiere und Esel sagt.

Und während wir anderen von Sommer zu Sommer stärker werden, mehr und länger saufen und tanzen können, wird Renči immer schwächer. Anfangs gibt es nur Tage, die im Feld etwas kürzer ausfallen. Später lässt Renata den einen oder anderen ganzen Tag ausfallen und bleibt im Bett. Dann kommt unweigerlich der Tag, an dem Renata ihr Maultier nicht mehr satteln kann, nicht mehr in die Olivenbaumäste greifen oder sich nach heruntergefallenen Oliven bücken kann.

Heute lebt das Maultier nur noch in unser beider Erinnerungen, und meine Renči lebt in ihrem elektrisch betriebenen Rollstuhl oder in ihrem Bett mit der therapeutischen Matratze. Ihre einzige Hilfe ist ihr Ehemann, ein ehemaliger, sagen wir mal "begabter Händler mit Waren zweifelhafter Herkunft". Als auch bei ihm wegen eines Nervenleidens der aufrechte Gang nur ein früherer Lebenszustand wird, findet er zu Jesus, schließt mit seiner Vergangenheit ab und baut für Renči ein therapeutisches Schwimmbecken hinter dem Haus.

Renata sagt mir, sie fühle sich von der Gemeinde im Stich gelassen. Sie sagt, nur die Beharrlichkeit ihres Mannes rette sie, denn er besiegt den Papiertiger der staatlichen Barmherzigkeit und holt für sie ein Maximum an Pension und Zulagen heraus. Doch nun ist auch er am Ende seiner Kraft. Ich frage mich, wie ihr nächster Sommer beginnen wird.

Slavica lebt wieder!

Im letzten Sommer ist sie ein schlimmer Anblick: dürr, matt und gelb wie ein Kanari. Slavicas Leber versagt, und niemand weiß, was geschehen wird.

In allen früheren Sommern biege ich bei meiner Ankunft um die große Kurve nach dem Hafen, und sie sitzt unter ihrer Veranda zwischen Olivenöl- und Weinflaschen, die sie zusammen mit Rosmarinöl und Lavendelseife verkauft. Ihr "Geschäft" ist praktisch das verlängerte Wohnzimmer ihrer Familie. Die Waren stehen auf einigen großen Fässern, und man muss zweimal hinsehen, um dazwischen die zierliche Frau zu erkennen, die freundlich zuruft: "Oliven-Oil! Vino! Dome-stick! Sehr scheen! Fantasti-cko!"

Dann erkennt sie mich, steht auf, und wir umarmen einander. Danach läuft sie schnell zwischen die Fässer und kommt mit einer kleinen Flasche Olivenöl zurück, die sie mir lächelnd zusteckt. Ich sage dann: "Oliven-Oil! Dome-stick! Fantasti-cko! Sehr scheen!" Und wir lachen.

Diesen Winter verbringt Slavica im Spital in Zagreb. Dort wartet sie auf eine Spenderleber, die nicht und nicht kommen mag. Bald ist sie mit sich selbst im Reinen und bereit für den Hügel des Heiligen Rochus, wo alle Stivanjani früher oder später zum letzten Mal liegen. Und in Sutivan bereiten sich die Lebenden auf den Abschied von Slavica vor.

Doch dann – weil ich ja am Anfang schon schreibe, dass dieser Sommer fröhlich beginnt – ist die Leber für Slavica da! Es wird eine Bilderbuch-Transplantation und eine Bilderbuch-Rehab. Slavica ist zu hundert Prozent wieder die Alte! Ihre Bettnachbarin im Spital von Zagreb ist weniger glücklich: Als sie erfährt, dass die für sie bestimmte Leber einer lesbischen Frau entstammt, weigert sie sich, sie aufzunehmen, und stirbt bald darauf als aufrechte Katholikin. Als mir Slavica diese Geschichte erzählt, sage ich: "Na, wenigstens konsequent!" Und wir lachen wieder, wie jeden Sommer, wenn mir Slavica eine kleine Flasche Olivenöl zusteckt. Fantasti-cko! Sehr scheen!

Ivo Sila lebt noch!

Bevor mich mein erster Weg zu Slavica führt, muss ich jeden Sommer durch den Hafen und an der Anlegestelle vorbei, die Ivo Sila, dem letzten Berufsfischer von Sutivan, gehört. Meistens schaukelt hier seine alte, blaue Gajeta. Wenn sie mit einer Plane bedeckt ist, weiß jeder in Sutivan, dass Regen unvermeidlich ist. Wenn Ivo aber die Gajeta offenlässt, kann der Himmel noch so schwarz sein, er wird seine Schleusen nicht öffnen. Ivo Sila scheint mit seiner blauen Gajeta das Wetter in Sutivan geradezu zu machen.

Doch das stimmt natürlich nicht. Ivo ist bloß schon so lange auf diesem Stück Erde, Meer und Himmel zu Hause, dass er jede Lüge, jedes Scheinmanöver und jedes trügerische Lächeln der Meer- und Windgötter durchschaut und richtig deutet. Jeden Sommer plane ich meine Tagestätigkeit in Sutivan erst nach einem morgendlichen Blick auf Ivos Gajeta. Und solange sie denken können, machen das alle hier genauso.

Diesen Sommer ist Ivo Sila 83 Jahre alt geworden, seine Gajeta 100. So sagt man. Wenn ich frühmorgens das Brot hole, bleibe ich immer beim Boot von Ivo stehen und frage ihn, was er heute den Meeresgöttern abluchsen will. Dann sagt Ivo, dass die Götter geizig geworden sind. Trotzdem kehrt Ivo nie mit leeren Händen vom Meer zurück. Es reicht immer für seine drei, vier Zähne, mit welchen er sowieso nur noch Fisch essen kann, und zum Verkauf an ein paar Kenner – an Touristen verkauft er nie Fisch, Ivo hasst sie!

Sein Fang und das Gemüse und Obst aus einem kleinen Feld ernähren Ivo Sila übers ganze Jahr. Wahrscheinlich ist er deswegen der sehnige, zähe Fischer geblieben, wie es hier früher viele gibt und wie früher Ivos Vater und alle vor ihm sind. Maestral, Jugo und Bura machen aus der Geografie seines Gesichtes die Oberfläche eines luftgetrockneten Pršut, und das Salz der Gischt lässt seine blauen Augen trüb sein. Doch Ivo sieht nicht nur gut und weit, er weiß auch ganz genau, wo etwas aus der Adria zu holen ist: "Dazu brauche ich keine Augen!" – sagt er mir.

Tatsächlich ist das Ablege- und das Anlegemanöver, das Ivo Tag für Tag mit seiner Gajeta macht, ein minimalistischer Tanz aus genau kalkulierten Bewegungen, der den Anschein hat, ein Blinder würde hier am Werk sein. Ich weiß nicht, wie oft ich diese wunderbare Harmonie zwischen einem Fischer, seinem Boot und dem Meer noch sehen darf.

Jetzt bin ich doch ein wenig traurig.

Šjor Ivo! Alles gute Ihnen! Und mirno more! (Bogumil Balkansky, 21.7.2017)