Das Gerücht, dass Hans Kelsen (geboren 1881 in Prag, gestorben 1973 in Orinda/ Kalifornien), der "Architekt" der österreichischen Bundesverfassung und einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts, ursprünglich einen anderen Namen getragen habe und sich erst nachträglich in Kelsen umbenennen ließ, existiert zumindest seit den 1930er-Jahren.

1936 veranstaltete die Reichsgruppe Hochschullehrer des NS-Rechtswahrerbundes in München eine Tagung zum Thema "Das Judentum in der Rechtswissenschaft", bei der mehrere Vortragende diese Behauptung aufstellten oder zumindest Anspielungen in diese Richtung machten, und noch fast dreißig Jahre später wurde das Gerücht von einem Professor der Hochschule für Welthandel in Wien, Taras Borodajkewycz, in seinen Vorlesungen weiterverbreitet.

Als der junge Jurist (und spätere Bundespräsident) Heinz Fischer, gestützt auf die Vorlesungsmitschriften des Studenten (und späteren Finanzministers) Ferdinand Lacina, darüber in der Arbeiter-Zeitung berichtete, war dies der Auslöser für die "Affäre Borodajkewycz". Gewalttätige Ausschreitungen führten letztlich, 1965, sogar zu einem Todesopfer – dem "ersten politischen Toten der Zweiten Republik", wie es damals hieß.

"Sohn der Keyle"

Das Prager Geburtenbuch belegt, dass Hans Kelsen seinen Namen schon von Geburt an trug. Auch sein Vater, Großvater und Urgroßvater, welche alle aus Brody in Galizien (nunmehr Ukraine) stammten, trugen den Namen Kelsen. Es ist daher zu vermuten, dass die Familie den Namen schon besaß, als 1787 alle Juden Galiziens verpflichtet wurden, einen Familiennamen anzunehmen. Die Bedeutung des Namens ist nicht vollständig geklärt; eine Theorie besagt, dass Kelsen eine Variation des – in Brody und Umgebung ebenfalls verbreiteten – Namens Kelsohn sei. Kelsohn wiederum bedeute "Sohn der Keyle", wobei Keyle ein damals weitverbreiteter weiblicher jüdischer Vorname gewesen sei. Die Bildung eines Nachnamens aus einem Mutternamen (Matronym) war zu jener Zeit zwar weniger verbreitet als die aus einem Vaternamen (Patronym), doch durchaus häufig.

Woher das Gerücht um einen angeblichen Namenswechsel Kelsens letztlich stammt, ist unbekannt. Es mag durch die Tatsache angeregt worden sein, dass der Name Kelsen wenig jüdisch klingt. Unter anderem tragen auch ein kleines Dorf in Rheinland-Pfalz und eine dänische Backwarenfirma diesen Namen. Doch stehen weder das deutsche Dorf noch die dänische Firma in irgendeiner Beziehung zum österreichischen Jahrhundertjuristen. (Thomas Olechowski, 23.7.2017)