São Miguel – Knochen ausgestorbener Tiere werden am laufenden Meter irgendwo auf der Welt ausgegraben. Dass man dabei auf die Überreste einer zuvor unbekannten Art stößt, kommt schon seltener vor. Eine wirkliche Besonderheit ist es aber, wenn eine solche "neue" Art erst in historischer Zeit ausgestorben ist.

Einen solchen Fall vermeldet nun ein internationales Biologenteam im Fachmagazin "Zootaxa". Die Forscher stießen auf der Azoren-Insel Graciosa auf die Knochen einer unbekannten Singvogelart. Diese befanden sich in einer Lavaröhre eines 12.000 Jahre alten Vulkankraters im Südosten der Insel.

Rekonstruktion des Azoren-Gimpels anhand des gefundenen Schädels.
Bild: Pau Oliver

Bei dem Tier handelte es sich laut Josep Antoni Alcover vom Mediterranean Institute for Advanced Studies um einen engen Verwandten unseres Gimpels (Pyrrhula pyrrhula). Die neuentdeckte Spezies, die den Namen Pyrrhula crassa erhielt, war allerdings ein wenig größer. Der Gimpel-typisch kurze Schnabel war bei ihm besonders groß und kräftig ausgebildet – die Forscher vergleichen ihn mit dem eines kleinen Papageis.

Pyrrhula crassa ist erst vor wenigen Jahrhunderten ausgestorben, laut Alcover infolge der menschlichen Besiedlung der Azoren, die im 13. Jahrhundert von Portugal aus begann. Im Zuge der Kolonisierung der Inseln wurden die Lorbeerhaine, in denen der Singvogel gelebt hatte, großteils niedergebrannt. Die Invasion der Inseln durch vom Menschen mitgebrachte Pflanzen verschlimmerte die Lage – bis dem Vogel schließlich die Lebensgrundlage entzogen war.

Die Azoren folgen damit einem Muster, das sich immer wieder abgezeichnet hat, von Neuseeland über Hawaii bis zu den Kanarischen und den Karibischen Inseln: Vom Menschen mitgebrachte Bioinvasoren setzen der endemischen Vogelwelt von Inseln stark zu. Alcover ist sich sicher, dass Pyrrhula crassa als erster ausgestorbener Singvogel der Azoren nicht der letzte bleiben wird. (jdo, 29. 7. 2017)