Ein Selfie mit potenziellen Wählern: ÖVP-Chef Sebastian Kurz hat mit seiner türkisen Bewegung die Partei deutlich attraktiver auch für ungebundene Wähler gemacht.

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Allmacht in der Partei mit Durchgriffsrechten und ein Ansprechen völlig neuer Wählersegmente durch Sebastian Kurz – beides wurde von Medien vielfach als etwas Erstmaliges in der Zweiten Republik dargestellt. Dem ist nicht ganz so.

1970 veranlasste Bruno Kreisky zwar keine Statutenänderungen, fand aber sehr wohl Mittel und Wege, zusätzliche Wähler anzusprechen. Zunächst bot ihm die kurzfristig gebildete SPÖ-Minderheitsregierung die Chance, eine komplette Ministerliste zusammenzustellen. Es war keine Frage, dass es sich dabei vor allem um seine Entscheidungen handelte. Kreisky nützte die Chance, einen parteiunabhängigen Außenminister in der Person von Rudolf Kirchschläger zu präsentieren. Daneben gab es deutliche Signale an nationale Wähler.

Tatsächlich war Kreiskys erste Regierung jene mit den meisten ehemaligen Nationalsozialisten. Kirchschlägers Ernennung wiederum erfüllte neben der Parteifreiheit mehrere zusätzliche Zwecke: Aufgrund seines persönlichen Hintergrunds wurden durch ihn bürgerliche und katholische Wähler angesprochen, andererseits verfügte er als Diplomat über keine politische Hausmacht. Somit konnte Kreisky die außenpolitische Linie selbst vorgeben.

Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Zweiten Republik gründete somit formal keine zusätzliche Bewegung, bot aber bürgerlichen, liberalen, aber auch katholischen und nationalen Wählern an, "ein Stück des Weges" mitzugehen.

Er wusste auch, wie diese Bevölkerungsgruppen zu erreichen waren. So waren nichtsozialdemokratische Journalisten hingerissen, wenn sie vom Kanzler persönlich angerufen wurden und mitunter sogar zu einem Privatissimum auf den Ballhausplatz gebeten wurden. Daraus resultierte mitunter eine wohlwollende Berichterstattung, die den Boden für die "Kreisky-Wähler" bereitete. Die Wahlergebnisse gaben dieser Strategie offensichtlich recht. Dreimal (1971, 1975, 1979) erreicht die SPÖ mit ihrem Spitzenkandidaten die absolute Mehrheit nicht nur an Mandaten, sondern auch an Stimmen – ein Erfolg, der bisher nicht wiederholt wurde.

Kreisky hatte aber auch das Talent, Rückschläge zu seinem Vorteil zu nützen. Das beste Beispiel ist wohl seine Reaktion auf die Ablehnung des Atomkraftwerks Zwentendorf in einer Volksabstimmung im November 1978. Da er sich bis zu einer Rücktrittsdrohung in der Kampagne davor für das Kraftwerk ausgesprochen hatte, wurde das Ergebnis natürlich als seine Niederlage interpretiert. Dennoch kam es im darauffolgenden SPÖ-Parteivorstand nicht zu seiner Demission, sondern es wurde ihm vielmehr eine Generalvollmacht erteilt. Derart gestärkt gelang es ihm, bei der nächsten Nationalratswahl im Mai 1979 seine Mehrheit von 93 auf 95 Mandate auszubauen. Einen größeren Paukenschlag setzte Kreisky im darauffolgenden November mit der Ernennung von vier Staatssekretärinnen als Signal an die Wählerinnen. Den Bereich Frauenfragen erhielt Johanna Dohnal, die allerdings erst 1990 unter Franz Vranitzky Ministerin wurde.

Buseks bunte Vögel

Was Bruno Kreisky bundesweit erfolgreich umsetzte, erreichte Erhard Busek in gewissem Ausmaß in Wien. Bei seinem Antritt als Landesparteiobmann im Jahr 1976 stand die ÖVP bei 31 von 100 Gemeinderäten und verfügte als Oppositionspartei über denkbar geringen Einfluss. In zwei Wahlen (1978 und 1983) gelang es Busek, die Zahl auf 35 beziehungsweise 37 zu erhöhen. Auch das Erreichen von neun Bezirksvorstehern war ein unbestreitbarer Erfolg. Offensichtlich wurden über den christlichsozialen Kern hinaus Wähler angesprochen.

Am Beginn dieses Weges stand ein Buch von Erhard Busek, dessen Titel bereits als Programm anzusehen war: Wien. Ein bürgerliches Credo. Darin wurde eine Stadt präsentiert, die für Aufgeschlossenheit, Selbstständigkeit und Urbanität steht. Dieses politische Konzept musste aber mit entsprechenden Persönlichkeiten glaubwürdig vermittelt werden, die nicht aus dem Parteiapparat kamen. In hohem Maß wurde dieses kulturelle Verständnis vom Schriftsteller Jörg Mauthe verkörpert. Dessen Feuerwerk an Ideen konnten sich letztlich die Bürgermeister Leopold Gratz und vor allem Helmut Zilk nicht entziehen. Letzterer gab auch unumwunden zu, etliche Vorschläge übernommen zu haben.

Erhebliche Widerstände

Nicht parteigebundenen Bürgern wurde mit der eher lockeren Organisation Pro Wien eine Möglichkeit zur Mitwirkung geboten. Über diese Plattform wurden Veranstaltungen und Aktionen zu Themen wie Umwelt, Grätzel- und Beiselkultur und Stadterneuerung abgehalten. Auch das Stadtfest ist ein Erbstück dieser Zeit. Damit sollten die Bürger von ihrer Stadt wieder selbst Besitz ergreifen können. Wurde diese Politik von den Inhalten her von den Parteifunktionären durchaus mitgetragen, so fand die Personalauswahl Erhard Buseks nicht immer ungeteilte Zustimmung. Manche Vorschläge wurden nur gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt, denn Durchgriffsrecht oder Generalvollmacht gab es nicht.

Sebastian Kurz und seine Aktivitäten können somit durchaus in der historischen Tradition der Bemühungen Bruno Kreiskys und Erhard Buseks gesehen werden. Der neue ÖVP-Obmann scheint für ein bürgerliches Österreich zu stehen, wobei er die Wähler offensichtlich einlädt, "ein Stück des Weges" (oder mehr) mit ihm zu gehen. Wie sehr die Wähler dieses Angebot annehmen wollen, werden wir am Abend des 15. Oktober wissen.(Paul Mychalewicz, 29.8.2017)