Setzen die Kandidaten bewusst auf eine Show der großen Versprechen, oder sind sie nur Opfer der Medien? Die ehrliche und harte Auseinandersetzung um Inhalte kommt dabei jedenfalls zu kurz.

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Wie erhaben der Thron auch sei, das einzige Streben sei, Gutes zu tun: Alles andere ist Qual und Versklavung", schleudert der römische Kaiser Tito in der Mozart-Oper "La clemenza di Tito" den Zuschauern bei den Salzburger Festspielen entgegen. "Was bliebe mir, wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, den Unterdrückten zu helfen, meinen Freunden beizustehen, und für Verdienst und Tugend Belohnung zu gewähren."

Die Worte des Opernhelden könnten auch von Kanzler Christian Kern stammen, der bereits im Januar mit der Vorstellung seines "Plan A" (A steht für Austria) in Wels seinen Wahlkampf eingeläutet hat. Die Salzburger Festspiele waren schon immer eine gute Parabel auf den Zustand der Republik. Denn auch die Spitzenkandidaten für die Wahlen am 15. Oktober versprechen, nur Gutes zu wollen.

Bei der großen Show unterliegen beide Spitzenkandidaten, Christian Kern und Sebastian Kurz, einer gnadenlosen Gefallsucht. Äußerlichkeiten spielen eine große Rolle. Wer ist sympathischer, bodenständiger, ehrlicher? Beide Kandidaten versuchen, in ihren Slim-Fit-Anzügen mit Jugendlichkeit zu brillieren.

Dem einen Kanzlerkandidaten gelingt das natürlich aufgrund seines Alters ohne großes Zutun leichter. Doch auch große Ohren, graues Haar an den Schläfen oder leichte Gewichtszunahme werden von den heimischen Medien wie unter einem riesigen Vergrößerungsglas beobachtet. Doch zu welchem Zweck?

"Demnach hätte Bruno Kreisky nicht einmal Ortskassierer einer Bezirkspartei werden dürfen", sagte richtigerweise FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache dem Nachrichtenmagazin "Profil". Schließlich war Österreichs größter und schwergewichtiger Kanzler seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs modisch eher altbacken.

Doch am Ende haben damals noch die politischen Inhalte und visionären Ziele gezählt. Tempi passati. Heute arbeitet jeder Wahlkämpfer minutiös an seinem Outfit – natürlich auch Strache, der mit seinem Einstecktuch ganz in der Tradition Jörg Haiders immer besonders fesch herüberkommen möchte.

Keine Chance für Merkel

Angela Merkel hätte als Kanzlerin in Österreich ohnehin keine Chance. Bei ihren Ferien in Südtirol trug sie Wanderkleidung, mit der sie schon seit vielen Jahren in den Bergen unterwegs ist. Bei den Salzburger Festspielen holte sie wieder ihren farbenprächtigen Kimono aus dem Urlaubskoffer. Das Textilstück hat sie schon vor zwei Dekaden getragen.

Wer den Wahlkampf beobachtet, erkennt schnell: Es gibt ein Henne-Ei-Problem. Setzen die Spitzenkandidaten bewusst auf eine Show der großen Versprechen zur Eroberung des Kanzleramtes, oder sind sie nur Opfer der einheimischen Medien, die ständig nach neuen plakativen und reißerischen Auftritten gieren? Die Antwort heißt, beide sind schuld. Die Folge: Die ehrliche und harte Auseinandersetzung um Inhalte kommt zu kurz.

Stattdessen übertreffen sich die Spitzenkandidaten im Kampf um die Aufmerksamkeit lieber mit populären und populistischen Versprechen – unabhängig von den Chancen der Realisierbarkeit.

Sebastian Kurz will die Sozialhilfe für Ausländer zusammenstreichen und die österreichischen Unternehmen und Arbeitnehmer entlasten. Sagenhafte zwölf Milliarden Euro an Steuer will der 31-Jährige weniger verlangen, wenn er den Wahlsieg einfährt. Unternehmer und Ökonomen rechnen nach und schütteln den Kopf. Das Milliardenspiel kann nie und nimmer klappen, warnen sie. Doch am Ende sind sie zu feige, öffentlich die Pläne als Milchmädchenrechnung zu entlarven.

Und Amtsinhaber Christian Kern? Er verspricht ein sozialpolitisches Rundum-sorglos-Paket und Law and Order bei der Sicherheit, um die Zielgruppen links und rechts seiner Stammwählerschaft abzuholen. Eine inhaltliche Quadratur des Kreises.

Tiefe Kluften zwischen Wort und Tat

Das Problem in Österreich waren nie die großen Versprechen im Wahlkampf. Es war immer die Umsetzung nach dem Wahlsieg. Die tiefen Kluften zwischen Wort und Tat haben über viele Jahre zu Verkrustungen, Bürokratie, Schuldenberg und Selbstgefälligkeit geführt. Doch wie formulierte bereits der heute in Vergessenheit geratene Wiener Schriftsteller Jean Améry: "Volle Aufrichtigkeit ist unmöglich und auch unmenschlich."

Es besteht kein Zweifel: Österreich muss sich neu erfinden, wenn es seinen Wohlstand in den kommenden Jahrzehnten erhalten und mehren will. Das Land benötigt im globalen Wettbewerb einen Neustart. Die bisherige Software ist in die Jahre gekommen. Ein neues Betriebssystem mit erweiterten Funktionen ist notwendig.

Der Wahlkampf bietet die langersehnte Chance, die bleierne Zeit in Österreich zu überwinden. Mit Grauen erinnert man sich an das Jahr 2013. Damals standen einander mit Werner Faymann (SPÖ) und Michael Spindelegger (ÖVP) zwei Spitzenkandidaten gegenüber, deren Charisma so groß war wie das von Wellensittichen.

Postmoderne Parteichefs

Mit Kern und Kurz sind nun zwei postmoderne Parteichefs am Start, die das enge ideologische Korsett ihrer Parteien zumindest teilweise bereits gesprengt haben. Beide suchen ernsthaft das Gespräch mit den Bürgern, beide können zuhören und sind nicht beratungsresistent. Das ist schon ein gewaltiger Fortschritt.

Wäre nur nicht die gnadenlose Wahlkampfshow. Die Peinlichkeiten reichen vom Pizzalieferservice des einen bis zum Linzer Parteitagsküsschen des anderen! Kern lässt ein Video eines alpinen Stammtischgesprächs ins Netz stellen, in dem sein Gegenüber sich gnadenlos in Fremdenfeindlichkeit übt – ohne, dass der Kanzler dazwischenfährt.

Seit Wochen lechzen die Kandidaten nach Aufmerksamkeit. ÖVP-Chef Kurz gelingt das exzellent mit seiner Personality-Show. Mit Sportlern, Society-Größen und Ex-Haider-Vertrauten ist ihm die Aufmerksamkeit sicher. Seine Wahlkampfshow hat hohen Unterhaltungswert – nach dem Motto "Österreich sucht den Superstar". Doch sie ist auch bizarr.

Denn für die Regierung eines mitteleuropäischen Landes, das tiefgreifende Reformen angehen will, braucht es kluge, mutige und erfahrene Ministerkandidaten. Doch die Personaldecke dafür ist offensichtlich sehr dünn.

Das liegt auch an der Verfallszeit im Amt. In den Ministerien gaben sich seit der letzten Nationalratswahl vor vier Jahren viele Minister die Klinke in die Hand. Etliche davon sind danach hart gefallen und müssen sich mit dritt- und viertklassigen Jobs über Wasser halten.

Wähler aus dem rechten Lager gewinnen

Wer sich auf die Reise durch den Wahlkampfdschungel in Österreich begibt, erlebt Kurioses. Im Gegensatz zu Deutschland, wo es zwischen der CDU/CSU und der rechtspopulistischen AfD eine unüberwindbare Mauer gibt, ist die ÖVP ausgesprochen schmerzfrei.

Der Ex-Politiker der rechtspopulistischen FPÖ Josef Moser darf schließlich als Nummer drei für die ÖVP kandidieren. Der frühere Vertraute von Jörg Haider und vermutlich nächste Finanzminister wurde von Kurz geholt, um Wähler aus dem rechten Lager zu gewinnen.

Mit Antonella Mei-Pochtler, der Gründerin des Wiener Büros der Boston Consulting Group, lässt Kurz eine Unternehmensberaterin an seinem wirtschaftspolitischen Programm mitschreiben, die zuletzt Schlagzeilen machte.

Schließlich ist die 59-Jährige erst im Sommer als Aufsichtsratschefin der in finanzielle Bedrängnis geratenen Firma Wolford zurückgetreten, um dann für den Vorarlberger Strumpfhersteller selbst mitzubieten. Es ist schon eindrucksvoll, mit welcher Leichtigkeit Kurz mit seinen Personalien in den heimischen Medien durchkommt. Doch vielleicht gibt es dafür eine Erklärung?

Fehlende politische Hygiene

Denn zu den Phänomenen der Republik gehört die fehlende Distanz zwischen der politischen und der medialen Macht. Sowohl Kern als auch Kurz setzen auf ihre in vielen Jahren aufgebauten Netze in den heimische Medien. Das treibt bisweilen seltsame Blüten in Wien.

So gehen mit Kern und Kurz sogar Medien, die nicht unbedingt zu ihrem Lager gehören, nahezu amikal um. In einem Wiener Luxushotel liefert "Profil"-Herausgeber Christian Rainer dafür den Beweis. Der Chef des Nachrichtenmagazins begegnet Kurz mit einem freundschaftlichen Du. Er ist nicht der einzige mediale Influencer mit fehlender professioneller Distanz.

Kanzler Kern lässt sich von ORF-Moderator Tarek Leitner, mit dem er schon seine Ferien auf der spanischen Ferieninsel Ibiza verbracht hat, zur besten Sendezeit interviewen. Dabei ist eine solche Nähe eigentlich ein journalistisches K.-o.-Kriterium. Es hätte zum politischen Anstand eines Kanzlers gehört, den ORF um einen unbefangenen Interviewer zu bitten. Anderswo nennt man so etwas politische Hygiene.

Wie eine billige Vorabendserie

Manche Episode dieses Wahlkampfes wirkt wie aus einer billigen Vorabendserie aus Hollywood. Ausgerechnet an Maria Himmelfahrt herrscht in der Regierungspartei SPÖ hektische Betriebsamkeit. Für Kern kommt die Verhaftung seines Wahlkampf-Gurus Tal Silberstein in Israel höchst ungelegen.

Dem Datenspezialisten werfen die Ermittlungsbehörden dort Bestechung und Geldwäsche vor. Ein Fiasko für die SPÖ. Bert Brecht formulierte einst: "Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war." Tatsächlich war schon seit Monaten klar, dass Silberstein eine fragwürdige Figur ist. In Rumänien läuft schließlich seit Januar ein Strafverfahren gegen ihn. Doch Kern hielt weiter an ihm fest.

Wie singt Kaiser Tito in der Mozart-Oper "La clemenza di Tito?" "Freunde, wenn das Regieren eines Reichs bedeutet, dass sich mein Herz verhärtet, bitte, so nehmt mir das Reich."

Leider scheint es in Österreichs Politik genau umgekehrt zu laufen. (Hans-Peter Siebenhaar, 9.9.2017)