Wien – Als Christian Kern im wahrsten Sinne des Wortes in der obersten Etage der ÖBB angekommen war, suchte er sich im Bürotower am Wiener Hauptbahnhof nicht das repräsentativste Büro aus, sondern jenes mit Blick auf Simmering. Er schätze einfach den Blick auf die heimatliche Erde, gab der damalige Konzernchef bei einer Weihnachtsfeier zum Besten. Auf seine Herkunft aus dem Arbeiterbezirk nimmt der nunmehrige SPÖ-Chef auch im Wahlkampf gerne Bezug.

DER STANDARD hat einen Streifzug durch Kerns heimatliche Straße, die Kaiser-Ebersdorfer-Straße, gemacht und mit den Anrainern gesprochen, wie es sich in Simmering lebt.

Auf dem Schöllerbergl thronen das Simmeringer Hallenbad und das Simmeringer Freibad.
Foto: burg

Mehr Betriebs- als Wohnflächen

Die Kaiser-Ebersdorfer-Straße ist eine Durchzugsstraße. Scheinbar willkürlich zusammengewürfelt sind alte Gemeindebauten, Einfamilienhäuser und moderne Neubauten. Ein Asiate, ein Heuriger und ein großes Autohaus sind hier zu sehen. Nichts Spektakuläres.

Unter der Bezeichnung "Wien-West, Saurerwerke" befand sich zwischen August 1944 und April 1945 in Simmering ein Außenlager des KZs Mauthausen. Mehr als 1.600 Häftlinge waren hier untergebracht. In Baracken in der Haidequerstraße sowie im Schloss Neugebäude mussten sie Panzermotoren fertigen.

Simmering ist jener Bezirk Wiens, der den höchste Anteil an Betriebsflächen aufweist, entsprechend gering sind die Wohnbauflächen. Als Christian Kern hier in den 60er- und 70er-Jahren aufwuchs, waren viele Bauten noch nicht da.

Blick auf das E-Werk in Simmering.
Foto: burg

Bezirk der Superlative

Die Hauptkläranlage Wien wurde 1980 auf der Simmeringer Haide errichtet. Topografisch bildet diese Gegend mit 155 Metern Seehöhe den zweitniedrigsten Punkt Wiens. Nur die Lobau liegt mit 151 Metern noch tiefer. Der Energiecluster mit den Gas- und Stromkraftwerken, die Müllerverbrennungsanlage, die Hauptwerkstätte der Wiener Linien, Siemens sowie die Betriebswerkstätte der ÖBB zählen zu den wichtigsten Arbeitgebern des Bezirks. Der Zentralfriedhof ist mit einer Größe von 250 Hektar unter den Top Ten der größten Friedhöfe weltweit.

Unscheinbares Haus

In einem seiner Imagevideos hat Kern sein Elternhaus gezeigt. Es ist ein dreistöckiges Mehrparteienhaus, das im Krieg zerstört und später wiederaufgebaut wurde. Hier hat sich Kern mit seiner größeren Schwester ein Zimmer geteilt. Zu "Brown Sugar" von den Stones habe er hier öfters abgerockt, hat Kern seinem Biografen Robert Misik anvertraut.

Der Verkehrslärm von der Durchzugsstraße ist auf der Hinterseite kaum mehr zu hören. Hier erstrecken sich ein Waldstück, eine Wiese und ein Spielplatz, auf dem ein halbes Dutzend Kinder ausgelassen spielen. Wer den kleinen Hügel hinaufwandert, gelangt an die Rückseite des Simmeringer Freibads. Das Schöllerbergel war früher, als die Gegend weniger dicht verbaut war, ein beliebter Treffpunkt der Simmeringer Kinder zum Schlittenfahren.

Teures Leben

Brigitte, 64, Pensionistin, rät dazu, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Diese erwarte keine gute Zukunft.
DER STANDARD

Brigitte ist heute mit ihrem Enkel da. Die 64-Jährige war zeit ihres Berufslebens bei der Stadt Wien angestellt, als Wirtschafterin in Mutter-Kind-Einrichtungen. Sie lobt die Natur und die gute Nahversorgung in Simmering.

Doch dass das Leben so teuer geworden sei, macht der Pensionistin große Sorgen. Sie selbst muss mit 1.180 Euro pro Monat auskommen. Noch mehr Kopfzerbrechen bereiten ihr die Zukunftsaussichten ihrer beiden Kinder und ihrer drei Enkelkinder.

"Bringt keine Kinder zur Welt"

"Die Kinder, die jetzt zur Welt kommen, tun mir leid, die haben keine gute Zukunft. Darum sage ich immer: Bringt keine Kinder zur Welt." Brigitte wohnt seit der Scheidung alleine in der 93 Quadratmeter großen Gemeindewohnung und bezahlt 624 Euro Miete ohne Strom und Heizung.

Brigittes Tochter lebt gemeinsam mit dem Partner und drei kleinen Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Kostenpunkt: 400 Euro. Gerne hätten sie die Gemeindewohnung getauscht. Doch dann wird der Mietzins neu berechnet, was für Tochter und Schwiegersohn finanziell nicht zu stemmen wäre. "Wenn in der Familie nur einer berufstätig ist, dann ist es schwer. Der geht nur arbeiten für die Wohnung."

Bangen um Schulerfolg

Über sein eigenes Zuhause hat Kern einmal gesagt: "Meine Eltern haben immer viel gearbeitet. Sie sind früh aufgestanden und haben ein immenses Arbeitsethos gehabt." Vater Rudolf war Elektriker, die Mutter Sekretärin. Kerns Eltern haben außerdem ein kleines Unternehmen gegründet: ein Milchgeschäft in Favoriten. Nach der Geburt des Sohnes blieb die Mutter zu Hause und kümmerte sich fortan um die Kinder. Der Schulerfolg ihrer Kinder war Liselotte Kern ein großes Anliegen. "Kicken ohne Hausaufgabe", das gab es im Hause Kern nicht.

Dass einer bei den Kindern zu Hause bleibt, sei heute kaum mehr möglich, sagt Brigitte. Über den schulischen Erfolg ihres Enkelkindes macht sie sich viele Gedanken. "Der ist acht Jahre und kommt in die zweite Klasse und kann weder lesen noch schreiben noch rechnen." Das Enkelkind besuche eine Mehrstufenklasse und werde nicht seinen Bedürfnissen entsprechend gefördert.

Widerstand in der Florian-Hedorfer-Straße

Fünf Minuten, so lang dauerte Kerns Schulweg in seine Volksschule in der Florian-Hedorfer-Straße. Seit 2014 erregt ein Gebäude, das die Islamische Föderation in dieser Straße errichten lässt, die Gemüter der Simmeringer. Wofür das nun fast fertiggestellte Haus genutzt werden soll, ist nach wie vor unklar. Gegen den ursprünglich durchgesickerten Plan, eine private türkische Imamschule dort zu errichten, formierte sich breiter Widerstand.

Roman ist 25 Jahre alt. Er ist in Simmering aufgewachsen, als Kind habe er viel Zeit im Simmeringer Freibad und im Hof verbracht. "Früher waren wir noch unsrige Kinder, österreichische." Im Hof seines Elternhauses seien heute nur mehr türkische und jugoslawische Kinder anzutreffen. Er kritisiert, dass die Kinder zurückschimpfen, wenn die älteren Leute abends um Ruhe bitten. "Sie sagen 'Fick dich' oder 'Geh in Oasch'. Unsere Kinder sagen das nicht so oft." Roman wünscht sich daher, dass weniger Ausländer in seinem Bezirk leben.

Roman, 25, Gerüstbauer, wünscht sich weniger Ausländer in seinem Heimatbezirk.
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Kern blieb Simmering lange treu

Tennisschläger bespannen in der Simmeringer Einkaufsmall, Kaffeesäcke verladen in der Simmeringer Kaffeefabrik und die erste Studentenwohnung in der Simmeringer Hauptstraße: Christian Kern ist lange seinem Heimatbezirk treu geblieben. Den Rücken gekehrt hat er ihm erst, als er mit seiner späteren ersten Frau nach Margareten zog.

Sein politisches Engagement brachte ihm 1991 schließlich auch den Job als Pressesprecher des damaligen SPÖ-Staatssekretärs Peter Kostelka ein. Hier begann Kern einflussreiche politische und wirtschaftliche Netzwerke zu spinnen, die bekanntermaßen weit über Simmering hinausreichen. (Katrin Burgstaller, 4.10.2017)