Ein Versprechen von Freiheit, das ein Mädchen geglaubt hat. Es wurde gebrochen. Statt darüber zu trauern, wird jetzt umso lauter geschrien.

Foto: Heribert Corn

Es ging rund auf Facebook: Mit dem "Afghanen" solle kurzer Prozess gemacht werden, "heim nach Kabul, aber sofort", war noch die harmloseste Aufforderung, der Ruf nach der Todesstrafe war nicht weit, einer fabulierte von einer "Wut, die sich schon sehr bald kanalisieren wird", eine andere schrie den "Ausländern" in nicht lupenreinem Deutsch schriftlich entgegen, sie sollten endlich lernen, "sich zu benehmen und an die Regeln zu halten".

Je nach Temperament kam einem das Frösteln oder der Mageninhalt hoch, wenn man nach der Ermordung des 14-jährigen Mädchens durch ihren 18-jährigen Bruder einen Blick in die "sozialen Netzwerke" wagte. Die Stimme der Vernunft? Es gab sie, sie war gar nicht so leise, aber im allgemeinen Getöse ging sie dennoch unter.

Kontrastprogramm durch Anwältin

Dafür durfte dann, als wäre es quasi ein Kontrastprogramm, im Ö1-"Morgenjournal" ausführlich die Anwältin des mutmaßlichen Täters zu Wort kommen. Sie sprach von einer "reinen Affekthandlung", schilderte die innere Verzweiflung des jungen Mannes in rührenden Worten, pries seinen Respekt seinen Eltern gegenüber in hellen Farben – und setzte dazu in Gegensatz die nunmehr getötete Schwester. Aber ein Ehrenmord, gar im Auftrag der Eltern? Auf gar keinen Fall, sagte die Anwältin.

Nun tat sie genau das, was man von einer guten Strafverteidigerin erwarten kann – sie nutzte die Möglichkeit medialer Aufmerksamkeit, um im Namen ihres Mandanten zu sprechen. So weit, so okay. Erstaunlich war freilich, dass ihre Darstellung großteils unwidersprochen stehen blieb.

Rechtfertigungen

In beiden Fällen – in den vor Ausländerhass triefenden sozialen Netzwerken genauso wie in der Stellungnahme der Verteidigerin – bleibt das Wichtigste auf der Strecke: Mitleid mit dem Opfer und Trauer um das junge Menschenleben, das hier brutal ausgelöscht wurde. Beides vermisste man auch in den Stellungnahmen der Jugendbehörden, die sich primär damit rechtfertigten, dass "das" nicht zu erwarten gewesen sei und man eh alles getan habe, um die 14-Jährige zu schützen.

Das Mädchen kann nicht mehr für sich sprechen. Umso dringlicher wäre, dass alle eine Minute innehalten, bevor sie mit ihren Schuldzuweisungen, Vorverurteilungen, Entschuldigungen beginnen – und damit auch, ob gewollt oder nicht, am Andenken dieses Opfers herumzerren und es letztlich auch beschmutzen.

Gebrochenes Versprechen

Man muss sich nur einmal vorstellen, wie viel Charakterstärke, welchen starken Willen und welches grenzenlose Vertrauen in die Zukunft ein so junges Mädchen haben muss, um sich aus einem als beengend empfundenen Elternhaus zu befreien. Das ist schon nicht leicht für Kinder ohne Migrationshintergrund. Wie schwer muss es erst sein, wenn man seine Wurzeln in einem anderen Land hat, wenn man sich in Österreich womöglich nach wie vor phasenweise fremd vorkommt, wenn man zu Recht meint, die Familie sei, trotz alledem, noch immer der sicherste, der verlässlichste Ort?

Österreich hat diesem jungen Mädchen ein Versprechen gemacht: dass es möglich ist, frei zu sein, sogar wild, wenn man will. Dass man alles erreichen kann, wenn man sich bemüht – und dass es egal ist, ob man als Bub oder als Mädchen auf die Welt kommt. Das junge Mädchen hat dieses Versprechen geglaubt, so sehr geglaubt, dass es den ungeheuren, ungeheuerlichen Schritt wagte. Wäre er gelungen, das Land hätte eines Tages stolz sein können auf das Mädchen. Doch das Versprechen wurde gebrochen. Darüber sollte man besser weinen, statt gleich wieder loszuschreien. (Petra Stuiber, 21.9.2017)