Wien – Die Umfragen für die Nationalratswahl sind laut Experten "mit Vorsicht und dosiert zu genießen", wie es etwa Politologe und Wahlforscher Fritz Plasser formuliert. Umfragen könnten zwar Trends wiedergeben, meint Politwissenschafter Peter Filzmaier, aber: "Wir sollten so damit umgehen, dass wir uns von der Sehnsucht nach der Kristallkugel verabschieden."

Viele Wechselwähler

Dazu kommt: Es sind heuer besonders viele Wahlberechtigte potenzielle Wechselwähler – das hängt einerseits mit der zuletzt niedrigen Wahlbeteiligung von 74,9 Prozent zusammen, das heißt, dass jeder vierte Wahlberechtigte 2013 nicht wählen gegangen ist und potenziell heuer für eine Stimmabgabe gewonnen werden könnte.

Zudem sind rund 480.000 Wählerstimmen auf dem Markt, die 2013 an Parteien gegangen sind, die am Sonntag nicht mehr zur Wahl stehen.

Und viele Wähler entscheiden sich immer später. So hat die politische Marktforschung beobachtet, dass in den vergangenen Monaten die ÖVP ein stabiles Hoch zu verzeichnen hatte, was auch mit ständigen Medienberichten über die ÖVP unterfüttert wurde. Mit der Aufdeckung des Silberstein-Skandals ging die Aufmerksamkeit aber auf die SPÖ über. Höhere Medienpräsenz schafft üblicherweise auch höhere Sympathie – auch wenn sich die Sozialdemokraten nicht aus der Affäre ziehen konnten, haben sie wahrscheinlich die Solidarität vieler ihrer potenziellen Wähler ansprechen können.

ÖVP wird kaum 33 Prozent erreichen

Gleichzeitig deuten die von verschiedenen Instituten erhobenen, aber nicht publizierten Daten darauf hin, dass die ÖVP unter schwindender Präsenz leidet. Die in den letzten Wochen immer wieder und von allen Instituten publizierten 33 Prozent (mit einer Schwankungsbreite von 3,5 Prozent sind das 29,5 bis 36,5 Prozent) werden daher möglicherweise eher am unteren Rand bei knapp 30 Prozent landen.

Jedenfalls betont Filzmaier, dass er von einem "Umfrage-Bashing" überhaupt nichts halte. Umfragen könnten Trends wiedergeben: So konnte man dadurch etwa erkennen, dass die ÖVP mit Sebastian Kurz an der Spitze um so viel besser liegt als unter Ex-VP-Chef Reinhold Mitterlehner. Mehr als Trends seien aber vor allem in der Frage des Wahlausgangs nicht ablesbar, auch wegen der hohen Zahl von unentschlossenen Wahlberechtigten und den vielen, die sich erst ganz zum Schluss (manche erst in der Wahlkabine) entscheiden (sogenannte "Late Deciders").

Publizierte Umfragen sind keine Prognosen

Plasser betont, dass er das "Medikament" der Umfrage "durchaus für verabreichungswürdig" halte. Man solle es nicht verbieten, sondern müsse nur sorgsam damit umgehen. So wäre es wünschenswert, wenn manche Medien bei der Publizierung von demoskopischen Daten etwas sorgfältiger vorgehen würden. Notwendig wäre etwa, die Schwankungsbereiche von Umfragen grafisch darzustellen. Wichtig sei es aber vor allem, Umfragen nicht als Prognosen misszuverstehen.

Auch die Meinungsforscher selbst plädieren für einen vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen der Erhebungen: Man dürfe sich nicht auf eine Zahl festnageln, sagt etwa Peter Hajek (Public Opinion Strategies): "In Wirklichkeit muss man sagen, wir denken in Schwankungsbreiten." Für die aktuellen Umfragen bedeute das etwa für die ÖVP, dass diese "irgendwo zwischen 30 und 36 Prozent zu liegen kommen" – wohlgemerkt, in den Umfragen, nicht im Wahlergebnis. Denn: "Es ist eine Umfrage, keine Prognose", wie auch auch Polit-Berater Thomas Hofer betonte.

Es gibt einen Einfluss, aber er ist nicht berechenbar

Auswirkungen auf die Wahlentscheidung haben Umfragen zweifellos, betonte Plasser: "Dass veröffentlichte Umfragen in Massenmedien sehr wohl auf die Meinungsbildung und Einschätzungen und damit aber auch auf den Entscheidungsvorgang Einfluss haben, ist evident." Es sei aber nicht möglich, zu erheben, wie hoch dieser Einfluss auf die tatsächliche Wahlentscheidung ist.

Relevant seien Umfragen vor allem unter bestimmten Umständen – und diese würden derzeit in Österreich vorliegen, so Plasser. So hätten die Erhebungen vor allem dann Auswirkungen, wenn große Teile der Wählerschaft keine definitiven Parteibindungen haben. In Österreich betreffe dies rund zwei Drittel der Wahlberechtigten.

Orientierungshilffe in Koalitionsfragen

Ein weiteres Kriterium sei es, wenn sich eine Wettbewerbssituation abzeichnet, "die für österreichische Verhältnisse auch in Neuland führen könnte", etwa wenn neue Koalitionsformen möglich scheinen. "Dann sind Umfragen auch tatsächlich Orientierungshilfen" – nämlich für das taktische Wählen.

Dieses taktische Wählen werde von Umfragen beeinflusst – und werde am kommenden Sonntag wohl eine "sehr große Rolle" spielen. Beim "koalitionstaktischen Wählen" würde der Wähler versuchen, eine ihm nicht genehme Koalitionsvariante zu verhindern. "Und da sind auch demoskopische Daten – wenn sie ein ähnliches Bild bieten – durchaus Orientierungspunkte." Auch die Politik würde darauf reagieren. Die SPÖ warne daher vor Schwarz-Blau, die FPÖ versuche damit zu kontern, dass Rot-Schwarz ohnehin fix sei und auch die Grünen würden damit werben, dass eine ÖVP-FPÖ-Koalition nur mit einer Stimme für sie zu verhindern sei.

Taktisches Wählen von kleinen Parteien

Aber auch bei den kleineren Parteien sei das taktische Wählen von Relevanz. Hier bestehe etwa die Gefahr des sogenannten "Fallbeil-Effektes" bzw. "Wasted Vote"-Effekts (verlorene Stimme): Deuten die Umfragen an, dass eine Partei die für den Nationalrats-Einzug notwendige Vier-Prozent-Hürde nicht schaffen könnte, dann bestehe die Gefahr, dass der Wähler einer anderen Partei seine Stimme gibt.

Andererseits mobilisieren die Grünen in der letzten Wahlkampfphase gerade damit, dass sie ihre Sympathisanten mit der Aussicht konfrontieren, dass die Grünen möglicherweise aus dem Parlament fliegen – wenn das drohe, würden manche schwankenden Wähler vielleicht doch die Grünen "retten" wollen und ihnen zu einem höheren Ergebnis verhelfen als man das in den vergangenen Wochen eingeschätzt hatte.

Das abschreckende Beispiel BZÖ

Auch der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik verweist aber auf den gegenteiligen Effekt. Dafür gebe es auch wissenschaftliche Belege, etwa aus dem Jahr 2006: Damals tendierten jene BZÖ-Sympathisanten, die ein Scheitern an der Vier-Prozent-Hürde befürchteten, dazu, andere Parteien (vor allem die ÖVP) zu wählen.

Zwar würden derartige Effekte keine Massen an Stimmen bewegen, aber die Wähler-Bewegungen seien für die kleinen Parteien ziemlich wichtig.

Demobilisierung der Funktionäre

Plasser betont auch den "Eliten"-Effekt: Wenn die veröffentlichte Umfragen ein homogenes Bild zeigen, dann könne dies auf die Mobilisierungsfähigkeit der Wahlkampfaktivisten einer Partei Einfluss haben. "Wenn hier Umfrage um Umfrage zeigt, der Trend wird negativ, das Wahlziel wird deutlich verfehlt, oder man ist chancenlos: Dann hat das demobilisierende Effekte." Dann helfe es auch nichts mehr, wenn die Spitzenkandidaten an die Anhängerschaft noch so viel appelliert, für die Bewegung zu laufen. "Das bewirkt nichts, wenn die demoskopischen Trends ein mehr oder weniger konsistentes Bild zeichnen." Auch auf die Wahlkampf-Spitzenakteure hätten Umfrage-Werte Auswirkungen: Weiß man, dass das Wahlziel verfehlt wird, so sei das demotivierend und auch die Loyalität der Mitstreiter könne wegbrechen.

Auch die Redaktionen würden von Umfragen beeinflusst. Über Umfragen werde ja nicht nur isoliert berichtet, sondern diese würden dann ja auch in den Kommentaren und der sonstigen Berichterstattung berücksichtigt. Je intensiver und häufiger derartige Umfragen publiziert werden, desto intensiver sei der Effekt. Der Wahlkampf 2017 sei diesbezüglich "sicher ein einsamer Spitzenrekord". Zeichnen die Umfragen auch noch wenig Abweichung untereinander, dann werde deren Glaubwürdigkeit auch noch verstärkt.

Rückkoppelungseffekt bei Umfragen

Einen "extrem starken" Effekt von Umfragen sieht Ennser-Jedenastik vor allem auf das Handeln der Parteien selbst. Denn deren Entscheidungsträger würden diese Erhebungen "ganz genau und systematisch" lesen. Als Beispiel brachte er etwa die Linie von ÖVP-Parteichef Sebastian Kurz in der Flüchtlingsfrage. Diese habe sich der Außenminister "nicht aus den Fingern gesogen", sondern er habe gesehen, dass die FPÖ bei rund 30 Prozent der Stimmen liegt und habe "dementsprechend inhaltlich reagiert". Umfragen hätten also auch den Effekt, sich als politischer Akteur schwer zu tun, Präferenzen der Wähler lange zu ignorieren.

Wie auch Plasser verweist Ennser-Jedenastik auch auf die Bedeutung der Demoskopie bei der Personalauswahl von Parteien: So sei es nicht etwa Kurz' politische Erfahrung gewesen, die den innerparteilichen Druck auf einen Führungswechsel in der ÖVP erhöht habe, sondern die Tatsache, "dass sich die Partei von ihm zu Recht versprochen hat, dass er sie in den Umfragen bzw. in der Wahl nach vorne bringt".

Auch dass der ÖVP-Parteivorstand die Bedingungen von Kurz (Durchgriffsrecht, Personalhoheit) akzeptiert habe, ist laut Plasser mit den Hoffnungen von Parteivorstandsmitgliedern verbunden gewesen: "Diese Hoffnungen waren ja nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern hatten eine demoskopische Begründung."

Ähnliche Einschätzungen durch Anpassungsdruck

Dass die Umfragen seit Monaten ziemlich konstante Werte aufweisen, stößt bei Filzmaier aber auch Statistikern wie Andreas Quatember von der Keppler Universität Linz auf Verwunderung. Filzmaier sprach von einer "extremen Gleichheit". Allerdings könne er es schon verstehen, dass unter den Meinungsforschern ein "gewisser Anpassungsdruck" entsteht. Denn Ausreißer zu publizieren, die "vielleicht durch einen Zufallsfehler" entstanden sind, wäre "eine wagemutige Tat".

Quatamber verwies im Gespräch mit der APA darauf, dass 26 Umfragen hintereinander für die ÖVP eine Zustimmung von 32 bis 34 Prozent aufwiesen. "Das mag in der Bevölkerung als stabile Stimmung aufgefasst werden, ist aus Sicht der Statistik aber nahezu unmöglich. Es müsste auch Ausreißer geben." Laut seinen Berechnungen wäre dieses Ergebnis in etwa so wahrscheinlich, als wenn man mit einem Zug auf der 312 Kilometer langen Westbahnstrecke von Wien nach Salzburg fahren würde – und die Spitze des Zuges dann bei einer irgendwo zufällig getätigten Notbremsung genau auf einem zuvor markierten 83 Zentimeter langen Abschnitt zu stehen kommen würde.

Verbot von Umfragen bringt nichts

Hajek sagte zu diesem Thema, man dürfe nicht nur die publizierten Werte betrachten, sondern auch die Rohdaten, in denen die Ausreißer sehr wohl zu sehen sind. Notwendig sei es aber, dass diese Rohdaten seitens der Institute auch zur Verfügung gestellt würden.

Von einem Verbot von Umfragen vor Wahlen halten die Experten wenig bis nichts. Plasser verwies darauf, dass etwa in Frankreich, wo es ein solches Verbot gibt, sich französische Zeitungen dann eben auf in belgischen Zeitungen publizierte Umfragen berufen. Und noch wesentlich relevanter sei die "Internet-Öffentlichkeit". "Ein solches Verbot wäre nicht zu exekutieren", so Plasser. (cs, APA, 13.10.2017)