In Brüssel werden viele Entscheidungen getroffen, die für Mitgliedstaaten relevant sind. Kritik an zu viel Entscheidungsmacht in Brüssel führt zu Unzufriedenheit in den Nationalstaaten.

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Alexander Somek ist Professor für Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaften an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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Woran kann man die Intoleranten erkennen? Kann sich die liberale Demokratie gegen Bestrebungen wehren, die sie abzuschaffen versuchen? Wie kann man die Rolle Österreichs in Bezug auf die Visegrád-Gruppe verstehen? Und was macht "starke Führer" eigentlich so sexy?

Der Rechtsphilosoph Alexander Somek hat zur aktuellen Semesterfrage der Universität Wien der Community die Frage "Ist die 'illiberale' Demokratie die 'echte' Demokratie?" gestellt. Zahlreiche User reagierten darauf und diskutierten bereits im Forum mit Alexander Somek. Einen Auszug der Diskussion im Forum sowie ausführliche Antworten des Wissenschafters auf weitere Fragen können Sie hier und im ursprünglichen Artikelforum lesen:

Alexander Somek: Schon aufgrund meiner recht eingeschränkten sprachlichen Kompetenz kann ich zu den Haltungen der ungarischen Bevölkerung zu Orbán nichts sagen. Doch dürfen wir auf zwei Dinge aus der Freud'schen Massenpsychologie nicht vergessen, wenn wir es mit starken Führungspersönlichkeiten zu tun haben: die Identifizierung und damit emotionale Bindung an den "Führer" – das soll kein Vergleich zu Hitler sein, sondern nur die Rolle bezeichnen – und die lustvolle Befreiung von Hemmungen und das Gefühl gesteigerter Macht, das damit einhergeht. Ich selbst gehe selten auf Demos oder zu Wahlversammlungen. Aber ich kann mich gut daran erinnern, dass ich, als ich 1988 in Cambridge, Massachusetts, USA, an einer Wahlversammlung von Jesse Jackson teilnahm, von all diesen Emotionen erfasst wurde: Mit Jackson konnte ich mich identifizieren, und die Verschmelzung mit der jubelnden Masse erzeugte ein wunderbar ekstatisches Gefühl von Macht. Ja, da ist Libido im Spiel.

Die Liebe für Kreisky, die manche Österreicherinnen und Österreicher empfanden – ich selbst gehörte und gehöre bis heute dazu –, war viel sublimierter. Die Liebe zum Vater, der dafür sorgte, dass es uns gut ging, das war eine sehr österreichische Liebe zum aufgeklärten Herrscher, der uns zur Vernunft anhielt. Es war nicht die Liebe zu einem Führer, der es uns ermöglichte, unsere unmoralischen Neigungen auszuleben. Der Unterschied ist emotional interessant, leider bin ich kein Psychoanalytiker, ich würde ihn gern besser verstehen.

Alexander Somek: In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 werden Grundpflichten erwähnt. Das ist eine wichtige Erinnerung daran, dass die Menschenrechte eine Gesellschaft voraussetzen, die sich als ein solidarischer Verband versteht, in dem jede Person für jede andere eintritt, wenn sie Unterstützung braucht. Die große Frage, die sich einer solchen Gesellschaft stellt, ist die, wie die Verantwortung im Verhältnis von Gemeinschaft und Einzelnem aufzuteilen ist. Soll sich jede Person selbst um ihre Krankenversicherung kümmern? Soll sich jeder selbst seine Ausbildung auf dem freien Markt kaufen müssen? Würden wir uns dafür entscheiden, hätten wir eine nicht unerhebliche Gruppe von Menschen, die weder über Krankenversicherung noch über Bildung verfügen. Ein solches Ergebnis wäre aber mit den Menschenrechten unvereinbar.

Es ist also die solidarische Pflicht aller, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, damit eine soziale Krankenversicherung und ein zugängliches Bildungssystem möglich sind. Der Appell an die "individuelle Verantwortung" der anderen kann, wie der Soziologe Max Weber schon einmal festgestellt hat, leicht zum Vorwand dienen, sich aus der sozialen Verantwortung für andere zu stehlen. Ich will damit nicht behaupten, dass das immer der Fall ist. Individuelle Verantwortung muss auch sein. Wer Zugang zu einem öffentlichen Bildungssystem hat, der soll sich gefälligst anstrengen. Zumindest glaubt das der Professor in mir.

Alexander Somek: Wie könnte ich unserem Staatsphilosophen Popper widersprechen wollen? Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten. Richtig. Aber woran erkenne ich die Intoleranten? Alle, die etwas für wahr halten, sind in gewisser Weise intolerant, weil sie die Meinungen anderer, die es nicht glauben, für verfehlt halten. Intolerant in dem von Popper wohl gemeinten Sinne sind nur jene, die eine Herrschaftsform abschaffen wollen, die es uns zumutet, von Menschen regiert zu werden, mit denen wir nicht übereinstimmen. Demokratische Gesellschaften sind nur möglich, wenn wir Dissens zulassen. Die Frage ist bloß, wie weit dieser Dissens gehen darf. Hier ist mein Vorschlag. Freiheit, Gleichheit und Gegenseitigkeit – "wie du mir, so ich dir" – sind die Grundsätze, unter denen wir mit Dissens leben können. Jeder ist frei, sein eigenes Urteil zu bilden und dies auch auszusprechen. Keiner ist von Natur aus besser als die anderen. Jeder darf regieren, der bereit ist, von anderen regiert zu werden.

Ich meine, solche Grundsätze sind deutlicher als die gewichtigen Worte des Staatsphilosophen über die Pflicht zur Intoleranz gegenüber der Intoleranz. Denn sie lenken unseren Blick auf durchaus trickreiche Fragen, die sich uns täglich stellen: Wie viel Freiheit lassen wir den Andersdenkenden? Machen wir es uns vielleicht zu leicht, wenn wir sie als Rassisten, Sexisten oder Xenophobe brandmarken? Ist es vielleicht ein Anzeichen moralistischer Verblendung, wenn wir die Regierungsübernahme durch eine Partei mit rechtspopulistischen Tendenzen sofort mit Vorgängen in den 1930er-Jahren vergleichen? Als Demokrat muss man die in postmodernen Zirkeln gern beschworene "Alterität" der anderen aushalten und darf diese nicht vorschnell als "die Intoleranten" verunglimpfen. "Die anderen" – für die einen sind das die Moslems, für die anderen die Rechten. Und in beiden Fällen ist es verlockend, den anderen Intoleranz zu unterstellen, um sie auszuschließen.

Alexander Somek: Das ist sehr antik gedacht, aber leider doch ein wenig abstrakt, denn es gibt Demokratien, wie die Schweiz, die über starke direkt-demokratische Elemente verfügen, ohne in eine Diktatur umzuschlagen.

Die Diktatur ist nicht die Vollendung der Demokratie. Platon hat sich das so imaginiert, aber das macht es deswegen nicht richtig. Das Prinzip der Diktatur ist die Einheit, das Prinzip der repräsentativen Demokratie hingegen die Vielfalt. In der repräsentativen Versammlung wird die mangelnde Einheit des Volks deutlich und das gemeinsame Handeln – die Willensbildung – aus der damit verbundenen Herausforderung der Vielheit begreiflich.

Alexander Somek: Ich meine, der mangelnde Widerstand gegen die Ungleichheit und die Dominanz globaler Unternehmen haben viele Ursachen. Ich gebe Ihnen bloß zehn Punkte zu bedenken:

  1. Der Mehrheit der Bevölkerung geht es nicht so schlecht, dass man schon von "Verelendung" sprechen kann. Sie hat mehr zu verlieren als ihre Ketten. Das ist ein Widerstandsnachteil.
  2. Auch die sozialdemokratische Politik hat die Bedingungen zu beachten, unter denen es Wirtschaftswachstum geben kann, denn nur ein solches, siehe Punkt sechs, wird der großen Mehrheit zugutekommen.
  3. Staaten sind aufgrund großer Budgetdefizite in ihrem Handlungsspielraum beschränkt.
  4. In der EU ist der Kreis der Begünstigten nicht mehr ohne Weiteres auf die eigenen Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen. So wird alle Sozialpolitik teurer.
  5. Staaten handeln unter Bedingungen internationaler Standortkonkurrenz und müssen darauf achten, die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft zu befördern. Hohe Steuern leisten dazu keinen Beitrag.
  6. Staaten sind mit vielfältigen rechtlichen Vorgaben konfrontiert. Sie reichen von der Eigentumsfreiheit über die Grundfreiheiten des Binnenmarkts bis zum WTO-Recht und zum Internationalen Investitionsrecht.
  7. Die einzelnen Staaten sind wegen ihrer Einbettung in die globale Ökonomie weniger wirkungsmächtig, als sie es waren. Wolfgang Streeck hat das treffend zum Ausdruck gebracht als Wandel von "state-embedded markets" zu "market-embedded states".
  8. Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, wie eine Gesellschaft effektiv auf sich selbst bzw. auf die Verteilung von Gütern einwirken können sollte, ohne ein Nationalstaat zu sein. Der Nationalstaat hat aber in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine schlechte Presse gehabt – in politischer wie ökonomischer Hinsicht. Wir haben keine Idee, was die Institutionen sein könnten, mit denen sich etwas ändern ließe.
  9. Wir leiden an einem extremen Mangel an politischer Einbildungskraft. Deswegen verfolgt die Linke vorwiegend Inklusionsziele, indem sie Exklusion bekämpft. Sie ist gegen alle Formen von "Ismen", also Rassismus, Sexismus, Nationalismus. Aber dieser Negativismus ist nur ein Anzeichen dafür, dass sie nicht genau weiß, wie eine gerechtere Gesellschaft wirklich aussehen sollte. Wissen wir das noch? Ich habe eine Vorstellung davon, aber sie ist nostalgisch. Was vor meinem geistigen Auge auftaucht, ist das Keynesianische Westeuropa der 1960er- und 1970er-Jahre. Das war allerdings eine Gesellschaft, in der die Aufteilung der Vorteile und Lasten zwischen den Geschlechtern sehr ungleich war. Sie lässt sich nicht mehr ohne Weiteres zum Vorbild nehmen. Auch der real existierende Sozialismus war kein Honiglecken, um es gelinde auszudrücken.
  10. Meines Erachtens wird nur das massive Verschwinden von Arbeit in unseren Gesellschaften jenen Druck erzeugen, der zu einem radikalen Überdenken unseres Gesellschaftsmodells führen wird. Das wird notwendig sein. Und es wird auch nicht nett werden.

Das war meine kurze Antwort auf Ihre Frage.

Alexander Somek: Ich wollte nicht eintreten für Österreich als "Führer" der Visegrád-Gruppe. Das ist ein grässlicher Gedanke, eine falsche Nostalgie, die man den Mitgliedern der Visegrád-Gruppe nicht einmal vom Ansatz her zumuten darf. Mich erstaunt nur die historische Blindheit, mit der eine Art von Homogenität im Verhältnis zu Österreich und diesen Ländern behauptet wird. Historisch war Österreich die durchaus ungeliebte Hegemonialmacht. Dieser historische Schatten wird uns Österreicher immer begleiten. (Alexander Somek, 7.12.2017)