Hartnäckige Demonstranten, wenig Erfolg: im Bild die 100. Donnerstagsdemo gegen die schwarz-blaue Regierung 2002. Am meisten Widerstand leisten Österreicher, wenn es um die Umwelt geht.

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Wien – Als es vor 18 Jahren zu einer schwarz-blauen Regierung kam, trieb die Angst vor Sozialabbau noch Massen auf die Straße: 150.000 Menschen haben am 19. Februar 2000 gegen die kurz zuvor angelobte ÖVP-FPÖ-Regierung protestiert. Und jetzt? Im Vergleich zu damals nimmt sich der öffentliche Widerstand gegen Türkis-Blau eher bescheiden aus. Haben die Kritiker resigniert? "Die Proteste im Jahr 2000 waren – zumindest in Hinblick auf die Maximalforderung nach einer Verhinderung dieser Regierung – ja nicht erfolgreich", sagt der Politikwissenschafter Martin Dolezal vom Institut für Staatswissenschaft an der Uni Wien. "Außerdem gab es damals ein größeres allgemeines Unbehagen aufgrund der überraschenden Regierungsbildung, die auch internationale Kritik auslöste."

Vom Konsens zum Protest

Die gegenwärtige Regierung habe eine größere demokratische Legitimation, auch sei es mittlerweile zu einem Rechtsruck in der Gesellschaft gekommen. Unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF unterzieht Martin Dolezal die Protestkultur der Österreicher in den letzten 20 Jahren erstmalig einer wissenschaftlichen Analyse und entkräftet dabei auch das eine oder andere Vorurteil.

Etwa jenes von der Duldsamkeit der Österreicher in politischen Angelegenheiten. "Lange ist man davon ausgegangen, dass Formen politischer Partizipation jenseits des Wählens in Österreich deutlich geringer ausgeprägt sind als in anderen westeuropäischen Ländern", sagt Dolezal. "Tatsächlich herrschte hierzulande lange ein Konsensklima, ökonomische Konflikte wurden in der Zweiten Republik über die Sozialpartnerschaft ausgetragen."

Da änderte sich mit den Umwelt-, Anti-AKW- und Friedensbewegungen ab den 1970er-Jahren. Bei der Besetzung der Hainburger Au etwa kamen die Schlagstöcke nicht zu knapp zum Einsatz, was für viele Beobachter zu einer Art (Wieder-)Erweckung des zivilen Ungehorsams in Österreich geführt hat. Aber ganz so fatalistisch waren die Österreicher auch vor diesem Erweckungserlebnis im Dezember 1984 nicht, wie eine Studie aus den 1970er-Jahren nahelegt. "Bei Petitionen und Unterschriftensammlungen gab es keinen großen Unterschied zu Deutschland, Holland oder Großbritannien", betont Dolezal. "Nur bei den Demonstrationen waren die Deutschen etwas aktiver." Auch aktuell liege Österreich im europäischen Mittelfeld, wenn es um "unkonventionelle Partizipation" geht.

Im Vergleich zu den Deutschen sind die Österreicher aber auch heute noch ein bisschen braver. Während sich laut dem European Social Survey, einer internationalen Umfrage, 2016 etwa elf Prozent der Deutschen an einer Demonstration beteiligt haben, taten dies nur rund sieben Prozent der Österreicher.

8500 Protestereignisse

An die 8500 Protestereignisse fanden zwischen 1998 und 2016 in Österreich statt, so der vorläufige Forschungsstand von Dolezals Studie. Dazu zählen neben Demonstrationen auch Unterschriftensammlungen, Hausbesetzungen und öffentliche Kundgebungen. Digitale Proteste hat der Wissenschafter nicht einbezogen, denn "ein Mausklick erfordert kein sehr großes Engagement", sagt er. "Die physische Präsenz ist auch im 21. Jahrhundert eine größere Herausforderung als die digitale, weshalb der traditionelle Protest noch immer relevanter ist."

Basis für seine Erhebung sind rund 200.000 APA-Meldungen, die Dolezal und sein Team mittels Schlagwortsuche herausgefiltert haben. Rund zehn Prozent davon enthielten relevante Informationen zu Protestereignissen. Die Analyse dieser Berichte macht deutlich, was die Österreicher am meisten aufregt und zum tätigen Widerstand treibt: eine drohende Gefährdung ihrer Umwelt – etwa in Form von Atomkraftwerken in Nachbarländern oder Gentechnik.

Erst danach kommen Wirtschafts- und Lebensstilthemen, selbst die Migrationsproblematik brachte über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg deutlich weniger Besorgte auf die Straße. Die Sorge um die Umwelt war übrigens schon in den 1970er- und 1980er-Jahren die Hauptursache für Proteste in Österreich, wie Dolezal in einer Vorgängerstudie herausfand.

Neue rechte Demonstranten

Unter den Protestierenden dominieren seit damals generell eher linke Gruppen, die sich vor allem bei sozialen und wirtschaftlichen Themen sowie bei Fragen des Lebensstils – zum Beispiel Frauenrechte, Rechte von Homosexuellen – engagieren. "Dass mittlerweile auch rechte Gruppen ihre Positionen auf die Straße bringen, ist ein relativ neues Phänomen", sagt der Wissenschafter. "Beim Thema Migration sind Rechte (kontra) und Linke (pro) zurzeit ungefähr gleich stark vertreten, langfristig betrachtet gibt es aber auch hier mehr linke Proteste."

Und wie viel Gewalt steckt in der österreichischen Protestkultur? Dazu gibt es zwar kaum internationale Vergleiche, doch die Analyse der APA-Meldungen verweist auf ein im Vergleich, etwa zu Frankreich oder Deutschland, relativ niedriges Gewaltpotenzial.

Während man Proteste bis in die 1970er-Jahre noch eher als Symptom einer gesellschaftlichen Krise betrachtete, erkennt man in ihnen heute ein verstärktes politisches Interesse und Engagement der Bevölkerung. Natürlich spiegle sich darin auch eine gewisse Unzufriedenheit wider – "allerdings nicht mit dem politischen System als solchem, sondern mit ganz spezifischen Faktoren", sagt der Politikwissenschafter. "Empirische Studien haben nämlich gezeigt, dass Protestierer gleichzeitig auch Wähler sind." (Doris Griesser, 26.1.2018)