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In einer Umfrage in Deutschland kam heraus, dass die meisten Menschen Gerechtigkeit als eine Mischung von Erfüllung von Grundbedürfnissen und der Belohnung von Leistung sehen.

Foto: REUTERS/RUSSELL BOYCE

Im Nationalratswahlkampf 2016 setzte die FPÖ auf den Slogan "Fairness" und argumentierte, es sei unfair, wenn Menschen, die bisher nichts ins Sozialsystem eingezahlt haben, ebenso viel erhalten wie langjährige Steuerzahler. Dieses Anliegen fand auch seinen Weg ins Regierungsprogramm: Dort steht, dass die Mindestsicherung für Zuwanderer in ganz Österreich deutlich gesenkt werden soll.

Als unfair wiederum prangert die Opposition die geplante Erleichterung bei der Arbeitslosenversicherung und den Familienbonus von 1500 Euro pro Kind an: Beides nutzt Niedrigstverdienern, die weder Arbeitslosenbeiträge noch Einkommenssteuer bezahlen, nicht, obwohl sie am dringendsten Hilfe benötigen.

Leistungsgerechtigkeit

Wenn Finanzminister Hartwig Löger am kommenden Mittwoch seine Budgetrede hält, könnte diese Debatte wieder aufflackern. Was vielen wie ein übliches politisches Hickhack erscheint, ist für Bernhard Kittel, Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien, hingegen Ausdruck einer tiefergehenden Diskussion über die Bedeutung von Gerechtigkeit. In einer vom Standard moderierten Podiumsdiskussion an der Universität beschrieb Kittel vor kurzem die ethischen und politischen Spannungen, die durch unterschiedliche Vorstellung davon, was gerecht ist, entstehen.

So ist das Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ von der Idee der Leistungsgerechtigkeit geprägt: Jeder soll nach seiner Leistung entlohnt werden und davon möglichst viel behalten können. Das entspricht auch der Weltanschauung der Neos. SPÖ und Grüne gehen hingegen meist vom Bedarf aus: Alle sollen das bekommen, was sie für ein menschenwürdiges Leben brauchen. Bei einer Belohnung nach Leistung werde die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Menschen vernachlässigt.

Überraschenderweise wechselt die türkis-blaue Regierung bei der Anpassung der Familienbeihilfe an die Lebenshaltungskosten im EU-Ausland zu einem Bedarfsargument: Weil das Leben im Osten für Kinder billiger ist, sollen die in Österreich arbeitenden Menschen weniger bekommen, obwohl sie gleich viel eingezahlt haben.

Wer hilft, dem wird geholfen

Hier fließt für Kittel ein weiterer Faktor bei der Definition von Gerechtigkeit ein – nämlich die Reichweite. Hat nach Ansicht etwa der meisten Grünen jeder Mensch die gleichen Rechte, gibt es auch das Konzept der Solidargemeinschaft, das heute meist mit den Grenzen des Nationalstaates gleichgesetzt wird. Auch ohne das Vorhandensein von Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus hat Gerechtigkeit hier einen höheren Stellenwert, weil sie auf Gegenseitigkeit beruht: Wer hilft, der kann auch damit rechnen, dass ihm geholfen wird.

Anders als der große US-Philosoph John Rawls geht der britische Sozialwissenschafter David L. Miller daher davon aus, dass gegenüber Angehörigen des eigenen Nationalstaats stärkere ethische Verpflichtungen bestehen als gegenüber Ausländern. Diese heute von der großen Mehrheit getragene Überzeugung hat etwa auch die Lösung der Euroschuldenkrise, wo Solidarität über Grenzen hinweg gefordert war, erschwert – und spielte auch in der Flüchtlingskrise eine entscheidende Rolle.

Kittel definiert zwei weitere Konzepte der Gerechtigkeit: jene der völligen Gleichheit, die sich allerdings eher in der demokratischen Politik als in Wirtschaftsordnung umsetzen lässt, und die des Anrechts. Das Letztere beruht auf hierarchischen Unterschieden und wird heute nur noch selten beschworen. Eine Ausnahme, sagt Kittel, war der SPÖ-Wahlkampfslogan "Holen Sie sich, was Ihnen zusteht". Erfolg hatte Exkanzler Christian Kern mit diesem Spruch wenig, was sich daraus erklärt, dass Anspruchsdenken heute kaum noch als gerecht angesehen wird.

Genauso wenig wirkungsvoll seien die allgemeinen Appelle an Gerechtigkeit im Wahlkampf der österreichischen Grünen und der SPD gewesen, sagt Kittel. "Für Gerechtigkeit ist jeder, aber es versteht jeder etwas anderes darunter", sagt er. "Wenn eine Partei diese Frage so offen lässt, weil sie nirgendwo anecken will, dann fühlt sich niemand angesprochen."

Männer so wie Frauen

In einer Umfrage in Deutschland – eine vergleichbare Studie in Österreich ist gerade im Laufen – kam heraus, dass die meisten Menschen Gerechtigkeit als eine Mischung von Erfüllung von Grundbedürfnissen und der Belohnung von Leistung sehen – mit nur ganz geringen Unterschieden zwischen dem Osten und dem Westen sowie zwischen Männern und Frauen. Wie hoch der Bedarf, der von einer gerechten Gesellschaft gedeckt werden muss, in der Praxis allerdings sein soll, darüber gibt es keinen Konsens.

In einer Reihe von Verhaltensexperimenten zeigt sich, dass für die Erfüllung von geringen Bedarfen viele Menschen zu teilen bereit sind. Diese Bereitschaft sinkt aber rasch, wenn es um höhere Aufwendungen geht, steigt aber wiederum, wenn man vom persönlichen Schicksal eines individuellen Bedürftigen erfährt – was etwa den Erfolg von Initiativen wie Licht ins Dunkel zeigt. Ohne dieses konkrete Wissen aber spielt die eigene finanzielle Situation eine entscheidende Rolle, sagt Kittel. "Erhält ein anderer mehr als ich oder mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung, dann werden Bedarfe wesentlich seltener erfüllt." Müsse man selbst auf etwas verzichten, um den Bedarf eines anderen zu erfüllen, dann sinke die Bereitschaft weiter.

Doch es gibt auch ein gegenläufiges Phänomen: Wer mehr verdient und mehr hat, legt mehr Wert auf Leistung als auf Bedarf. Kittel: "Da werden Werte in den Vordergrund gestellt, die den eigenen Interessen entsprechen." Die Unterstützung für Sozialprogramme sinke daher in höheren sozioökonomischen Schichten.

Auch die zeitliche Länge der Bedürftigkeit spielt eine Rolle. Verliert ein Jugendlicher seine Arbeit, so reagieren die Freunde anfangs solidarisch, beschreibt Kittel eine typische Situation. "Aber nach einiger Zeit beginnt das soziale Umfeld Druck zu machen. Dann heißt es: Du lebst auf unsere Kosten. Das führt zunehmend zu Isolation und sogar zum Ostrazismus des Bedürftigen."

Konsens und Differenzen

Die Kluft zwischen dem grundlegenden gesellschaftlichen Konsens und den Meinungsdifferenzen bei der konkreten Umsetzung spiegelt auch die politische Debatte in Österreich wider. In der Podiumsdiskussion an der Uni standen sich Rolf Gleissner, Sozialexperte der Wirtschaftskammer, der Arbeiterkammer-Ökonom Markus Marterbauer und der Geschäftsführer der Volkshilfe Österreich, Erich Fenninger, gegenüber. Gleißner und Marterbauer befürworten beide ein gemischtes Bedarfs- und Leistungssystem, wobei für Gleissner die positiven Anreize, die ein Leistungssystem bietet, entscheidend sind, denn ohne sie gebe es gar nicht den Wohlstand, um den Bedarf der Ärmeren zu decken. Marterbauer fokussierte wiederum auf die Bereiche, wo Leistung nicht fair belohnt wird, etwa bei Erbschaften, für die der Erbe nichts getan hat.

Fenninger hingegen stellte dieses Leistungskonzept infrage: Gerade die Bedürftigsten, die sich an die Volkshilfe wenden, wären gezwungen, im Alltag die größten Leistungen zu bringen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Auch die unbezahlte Familienarbeit werde in einem Leistungssystem vernachlässigt, was vor allem Frauen treffe.

Innen gegen Außen

Vor allem seit der Flüchtlingswelle von 2015 steht in der österreichischen Debatte die Frage nach der Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft im Mittelpunkt. Für die Mehrheit der Österreicher steht Asylwerbern und anerkannten Flüchtlingen als Neuankömmlingen weniger zu. Dabei gehe es oft mehr um kulturelle Werte als um die ethnische Herkunft, glaubt Kittel: "Soziale Integration, kulturelle Nähe, gemeinsame Sprache, gemeinsames Verständnis über Arbeitsorientierung – das sind alles Faktoren, die bestimmen, ob Menschen das Versicherungsprinzip akzeptieren."

In Österreich ortet er eine besonders scharfe Trennung zwischen innen und außen, auch als Folge einer späten Nationswerdung. "Gleichzeitig gibt es eine Mystifizierung der eigenen Gemeinschaft, vor allem bei der FPÖ", sagt Kittel. "Es existiert in Österreich relativ viel Solidarität, aber nur für die, die auch kulturell dazugezählt werden."

Je mehr die Regierung von ihren sozialpolitischen Pläne umsetzt, desto stärker werden Flüchtlinge und andere Zuwanderer diese Einstellung zu spüren bekommen. Die Debatte darüber, ob diese Differenzierung gerecht oder ungerecht ist, wird jedenfalls weitergehen. (Eric Frey, 18.3.2018)