Bei der Angelobung in der Hofburg: Nur sieben von vierzehn Mitgliedern der Regierung von Sebastian Kurz haben eine mehrjährige Erfahrung in der Politik vorzuweisen. Die FPÖ hat das erfahrenste Personal.

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Gut 100 Tage Laientheater. Wir sind zufrieden mit unserer neuen Regierung. Alles ist unter Kontrolle. Kaum ein Streit trübt das Klima. Niemand mag Konflikte, obwohl deren offenes Austragen eine zentrale Errungenschaft der liberalen Demokratie ist. Politik ist nämlich jenes Feld, in dem auf Basis von Macht kollektiv bindende Entscheidungen getroffen werden. Macht ist das Ergebnis von Interessenkonstellationen, keine politische Entscheidung ist interessensneutral. Schaffen wir vielleicht gerade die Politik ab?

Ohne Seilschaften

Wir sind jedenfalls auf gutem Weg, Politik als Beruf abzuschaffen. Nur mehr sieben von 14 Regierungsmitgliedern haben mehrjährige Erfahrung im politischen System. Zählt man die Staatssekretäre dazu, hat die Mehrheit der Bundesregierung keine professionelle Politikerfahrung. Das bringt scheinbare Vorteile. Neo-Politiker sind keinen Interessengruppen, Kammern oder Verbänden verpflichtet, sie können Entscheidungen ohne Rücksicht auf Seilschaften treffen. Sie fügen sich ins "Message Controlling" und sind steuerbar.

Gerade die von der ÖVP nominierten Regierungsmitglieder können unbeeindruckt vom Interessendschungel dieser Partei agieren und sind lediglich Bundeskanzler Sebastian Kurz verpflichtet. Interessant ist, dass die FPÖ noch eher auf politisch erfahrenes Personal setzt.

Die dritte Logik

Freilich ist dieser Befund auch Anlass zur Sorge. Die Professionalisierung von sozialen Feldern gilt in der Moderne als Lösungs-, vielleicht gar als Königsweg im Umgang mit der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Probleme. Der Soziologe Eliot Freidson nannte Professionalismus "The Third Logic" neben Bürokratie und Markt. Wir vertrauen Ärzten, Juristen und Architekten, weil sie in langjähriger Ausbildung und Praxis ihre Profession gelernt haben. Niemand fände es gut, Wohngebäude von Heimwerkern entwerfen und Kranke von Kurpfuschern behandeln zu lassen. Zu Recht empören wir uns, wenn dubiose Energetiker mit obskuren Leistungen beauftragt werden.

Für die Politik scheint dies nicht mehr zu gelten: Quereinsteiger in Regierung und Nationalrat gelten als erfrischend und unverbraucht. Es wird in Kauf genommen, dass sie (noch) wenig Ahnung von ihrem Politikfeld haben. Dass ein Finanzminister Ökonomie studiert und wissenschaftlich fundierte Kenntnisse über Wirtschaftspolitik erworben hat, ist nicht mehr Voraussetzung. Was früher selbstverständlich war – man erinnere sich an Minister wie Wolfgang Schmitz, Stephan Koren oder Hannes Androsch -, ist seit dem Ausscheiden Ferdinand Lacinas aus dem Finanzressort nicht mehr Bestandteil des Jobprofils.

Berufliche Felder sind geprägt durch eine Kombination von Bildungs- und Beziehungskapital, die den Erfolg im Feld bestimmen. In der Politik werden die Regeln für diese Kapitalien gerade umgeschrieben. Dass politische Erfahrung und Vernetzung nichts mehr gelten, mag den Boulevard und die Populisten erfreuen. Ob es gut für das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist, sei dahingestellt.

Manus manum lavat

Politische Erfahrung, erworben und geschärft im Diskurs mit Andersdenkenden, ist der Kern jenes Bildungskapitals, auf das es in der Politik ankommt. Es umfasst zudem Beeinflussungswissen, "politisches Gespür" und die Kenntnis von Institutionen. Dazu kommt die Zugehörigkeit zu Interessengruppen. Hier gilt unvermeid- bar das Prinzip der Reziprozität, das übel beleumundete "manus manum lavat". Hände werden immer gewaschen, transparenter und demokratiedienlicher ist es dabei allemal, wenn auch die Wähler wissen, welchen Interessen Politiker verpflichtet sind.

Laiendarsteller haben ihre Vorteile, erzählte jüngst Felix Mitterer. Sie sind unverbogen, authentisch und haben manchmal brachiale darstellerische Kraft. Das beruht auf Idealismus, Unabhängigkeit und einer starken intrinsischen Motivation. Ob dies auch für Neo-Politiker gilt, ist fraglich.

Autonom agieren

Um mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu argumentieren: Nur wer versiert ist im Spiel des Feldes, kann autonom agieren. Nur der Spitzenmediziner kann im Einzelfall gegen die Regeln seiner Kunst geniale Interventionen setzen, nur der bestens ausgebildete Fußballtrainer wird mit unorthodoxen Taktiken auf höchstem Niveau reüssieren. Wenn weder Bildung noch Erfahrung noch Sozialisation die Position im Feld absichern, ist man denen ausgeliefert, die einen dorthin gebracht haben. Das mag machiavellistisch erwünscht sein, der Demokratie dienlich ist es nicht.

Selbstüberschätzung

Die Profession der Politiker wurde erfolgreich desavouiert: Laut einer Market-Studie von 2017 glauben neun Prozent aller Österreicher, für das Amt des Bundeskanzlers geeignet zu sein, 30 Prozent halten sich für ministrabel – je jünger und politikferner, desto größer die Selbstüberschätzung. Ex-Politiker agieren als Berater zentralasiatischer Diktatoren und russischer Oligarchen, sie heuern bei Mineralöl- oder Glücksspielkonzernen an (der frühere SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, der ehemalige ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling und Ex-Grünen-Chefin Eva Glawischnig, Anm. der Redaktion). Aktive Spitzenpolitiker verdienen einen Bruchteil dessen, was Manager verdienen. Das sind Alarmsignale für unsere Demokratie.

Der deutsche Soziologe Max Weber bezeichnete die Politik als "langsames Bohren von harten Brettern mit Augenmaß und Leidenschaft zugleich". Weber prangerte die "Dilettantenwirtschaft" ebenso an wie die ahnungslosen Missionare und Idealisten. Politiker sollten sich wie Beamte durch Laufbahn und Expertise auszeichnen, ihren Beruf als Profession sehen, für den sie entsprechende Lehrjahre absolvieren. Eine Entwertung dieser Profession führt zu einer Entwertung des demokratischen Systems.

Um das aufzuhalten, müssten wir Regeln ändern:

• Erstens Politik ist ein Beruf und muss durch Praxis gelernt werden. Quereinsteigertum ist nicht verboten, sollte aber die Ausnahme bleiben und durch besondere fachliche Kompetenz begründet sein.

• Zweitens Methoden der Personalauswahl, wie sie jedes mittelgroße Unternehmen einsetzt, sollten auch für politische Spitzenpositionen angewandt werden.

• Drittens Spitzenpolitiker müssen besser bezahlt werden und sollen nach Ausscheiden aus der Funktion nicht in den Steppen Zentralasiens verenden.

Italienische Verhältnisse

Wenn wir das nicht lernen, drohen uns italienische Verhältnisse in der Politik. (Michael Meyer, 13.4.2018)