Sechzig Jahre alt musste er werden, um zu dieser fundamentalen Erkenntnis zu gelangen: "Ich kann noch immer auf einem Bein stehen."

Niemals in den vergangenen Jahren sei ihm das bewusst gewesen. Er würde das ja auch gerne mit seinem Namen kundtun, aber die Verantwortlichen des Kurhauses im altehrwürdigen steirischen Bad Gleichenberg blocken energisch ab: "Bitte keine Fotos und keine Namen der Patienten, die neuen Datenschutzrichtlinie, sie wissen eh".

"Na gut, dann nennen S' mich halt nur Johannes", sagt der um die Hüften etwas stärkere Obersteirer im farbigen Trainingsdress, der in Bad Gleichenberg seine dreiwöchige Kur absolviert.

Krafttraining kann bei der Kur in Bad Vöslau in der Freizeit gemacht werden – der Andrang hält sich in Grenzen.
Foto: Regine Hendrich

Er ist zum zweiten Mal hier. Diesmal aber sei alles ganz anders. "Vorher", muss er ehrlich zugeben, "war's schon ein bissl gemütlicher. Massagen und so." Aber jetzt? Seit hier die Behandlungen teilweise auf die "Gesundheitsvorsorge aktiv" (GVA) umgestellt worden sind, ist mehr Pfeffer drinnen im Kurgeschehen.

"Jetzt muss ich wirklich was tun", sagt Herbert (59) aus Salzburg, der soeben aus der Gymnastikstunde kommt. "Aber ich muss zugeben, es geht mir besser, weil ich jetzt merke: Jö schau, das geht noch und das auch noch. Ich bin ja körperlich gar net so schlecht beinander."

Die Kur sei damit natürlich anstrengender, aber langfristig wirksamer, erklärt Therapiezentrumsleiter Denny Thormann. Jeder Patient im GVA-Programm sei ab der ersten Stunde eingespannt: vom einfachen, therapeutisch geführten Wandern, Krafttraining mit und ohne Geräten, Qi Gong bis zum Ausdauer- und Mentaltraining. Zwischendurch wird intensiv an den Ernährungsgewohnheiten gearbeitet.

Bei der "Gesundheitsvorsorge aktiv" (GVA) steht mehr Bewegung auf dem Programm.
Foto: Plankenauer

Bad Gleichenberg ist eines der acht Modell-Kurhäuser, in denen die Aktiv-Kur seit vier Jahren getestet wird. Aus Sicht der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) so erfolgreich, dass nun alle Kuren für den Stütz- und Bewegungsapparat sukzessive umgestellt werden.

Wellnessurlaub ade

"Es geht darum, die Kur nicht mehr als Wellnessurlaub zu begreifen", sagt Primarius Christian Wiederer, der federführend den Paradigmenwechsel in Bad Gleichenberg organisiert hat. Früher kamen die Patienten mit der Vorstellung hierher: Okay, ich lege mich auf die Liege und warte, was passiert – ein paar Moorbäder, fünf Massagen, und dann bin ich wieder fit. Jetzt geht es um eine wirkliche mentale und körperliche dauernde Verhaltensänderung, um einen gesünderen Lebensstil." Das sei der entscheidende Unterschied zu früher, die Aktivität der Patienten werde gesteigert.

Wie läuft die neue Aktiv-Kur in groben Zügen ab? An das für alle Patienten gleiche Trainings-Basismodul schließt eine individuelle, auf die Bedürfnisse der jeweiligen Patienten abgestimmte Einheit an. Gäste und die behandelnden Kurärzte entscheiden gemeinsam, ob der Fokus stärker auf Ernährung, auf Bewegung oder auf mentaler Gesundheit liegen soll. Egal, wo die Beschwerden liegen, Aktivität soll helfen, passive Therapien stellen die Ausnahme dar.

Die gemütliche Kur-Variante

In Bad Vöslau ticken die Uhren hingegen noch anders. In weißen Bademänteln schleppen sich die Kurgäste durch den Therapiebereich des Kurhotel Vivea. Der Bademantel ist hier das wichtigste Requisit; wer möchte, kann ihn auch an der Rezeption als Andenken werben. Das Durchschnittsalter der Kurgäste liegt bei etwa 70 Jahren.

In Bad Vöslau ist der weiße Bademantel nach wie vor das wichtigste Requisit – vor und nach der Aquagymnastik.
Foto: Regine Hendrich

Ein Drittel der Gäste hat eine Kur von der Kasse bewilligt bekommen, der Rest ist Selbstzahler. Wer einmal von der Versicherung in das Vivea-Gesundheitshotel Bad Vöslau geschickt wurde, kommt häufig privat wieder, erzählt Hoteldirektor Christoph Buchegger. Für die Versicherungsgäste erhält der Betrieb 91,44 Euro am Tag – eine Pauschale, die Vollpension und alle Therapien beinhaltet. Bei der Gesundheitsvorsorge aktiv ist der Zuschuss um circa zehn Euro höher.

Nicht nur die Nähe zu Wien macht den Kurort Bad Vöslau attraktiv. Das mondäne Thermalbad, die Gründerzeithäuser, der Kurpark und nicht zuletzt die Heurigen machen das Flair aus – ein Kurort wie zu Kaisers Zeiten.

So traditionell wie der Ort Vöslau läuft auch die Kur im Hotel Vivea ab. Von Gesundheitsvorsorge aktiv bleiben die Kurgäste derzeit verschont, allerdings nur noch bis Juli. Dann gilt auch für sie ein strafferes Programm.

2017 wurden laut Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungen 116.809 Kuren bewilligt. Ein Großteil der Anträge – knapp 84.000 ging dabei über die Pensionsversicherungsanstalt. Knapp 16.000 Personen haben im Vorjahr die Gesundheitsvorsorge aktiv absolviert.

"Jetzt geht es um eine wirkliche mentale und körperliche dauernde Verhaltensänderung, um einen gesünderen Lebensstil", sagt Primarius Christian Wiederer.

Nur noch Entspannen bei Schlammpackungen und Gurkenmasken ist aber auch in Bad Vöslau nicht mehr angesagt. Wer eine Kur zugesagt bekommt, verpflichtet sich zu 60 Therapieeinheiten innerhalb der drei Wochen. Montags bis freitags stehen täglich vier Therapien auf der Tagesordnung, am Samstag eine. Start ist um sieben Uhr in der Früh.

Gleich am ersten Tag wird für jeden Gast ein Therapieplan von Kurärztin Sabine Weinzettl mit der Therapieleitung entwickelt. Mit Drill und Bewegung werden die Kurgäste selten überfordert. Nur eine der vier täglichen Therapien ist eine Aktiveinheit wie Wassergymnastik, Nordic Walken oder Wandern. Massagen, Schlammpackungen und Kneipen stehen weiterhin genauso auf dem Programm.

Dennoch: Werden beim ersten therapeutischen Gespräch noch die chronischen Leiden beklagt, steht beim zweiten häufig schon der Muskelkater im Zentrum der Beschwerden.

Länger arbeiten

Laut PVA soll eine Kur grundsätzlich dazu dienen, die Menschen länger im Erwerbsleben zu halten, also einen früheren Pensionsantritt zu vermeiden. Jeder Sozialversicherte kann eine dreiwöchige Kur beantragen, Rechtsanspruch gibt es keinen: Zweimal in fünf Jahren kann eine Kur bewilligt werden. Obwohl häufig als Gratisurlaub abqualifiziert, ein Selbstbehalt zwischen acht und 19 Euro, nach Einkommen gestaffelt, muss jedenfalls entrichtet werden.

Wer eine Kur zugesagt bekommt, verpflichtet sich zu 60 Therapieeinheiten innerhalb der drei Wochen.
Foto: Regine Hendrich

Wer mehr Bewegung als verordnet machen will, kann sich auch freiwillig in den Fitnessraum begeben. Der Andrang am späten Vormittag hält sich in Grenzen, gibt es doch ab 11.30 Uhr das Mittagessen. Nur zwei Herren in Badeschlapfen kämpfen mit Gewichten. Dass eine dreiwöchige Kur nicht das ganze Leben verändert, ist sich auch Kurärztin Weinzettl bewusst. Dennoch verspricht sie sich von dem Konzept Erfolge, sie weiß nämlich auch: "Extremdiäten sind nicht sinnvoll."

Es gehe darum, den Menschen einen Fahrplan für zu Hause mitzugeben. Zuerst sollen sie erfahren, dass Bewegung auch Spaß machen kann, besonders Gruppenaktivitäten helfen dabei. Damit fallen sie nicht sofort in alte Verhaltensmuster zurück.

Dass einige, die im Hotel auf Schonkost gesetzt werden, der Versuchung der nahe gelegenen Heurigen nicht widerstehen können, ist im Kurhotel ein offenes Geheimnis – und ruft bei der erfahrenen Ärztin Schulterzucken hervor. Die Patienten haben Eigenverantwortung, sagt Weinzettl: "Es muss im Kopf Click machen, sonst schneidet man sich ins eigene Fleisch."

Eskapaden nur bis halb elf

Zum Mittag- oder Abendessen ein Glas Wein, das ist erlaubt. Das Hotel verfügt sogar über einen Weingarten am Grundstück.

Gäste, die aber über den Durst trinken, müssen mit Tadel rechnen. Das Gläschen zu viel wird im Kurhaus nicht gerne gesehen, zu den Therapien sollen die Gäste nüchtern erscheinen. Eskapaden außerhalb des Hotels sollten spätestens um 22.30 Uhr ein Ende finden, dann müssen die Kurgäste wieder im Hotel sein. Weitere Kontrollen gibt es jedoch nicht.

Von Kurschatten und Heurigen dürfte so mancher Kurgast in Bad Gleichenberg ohnehin nur bloß träumen. Nach einem Aktivtag freut sich so mancher nur noch auf eine erholsame "passive" Nachtruhe. (Marie-Theres Egyed und Walter Müller, 14.4.2018)