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Taumelnd: Marathonläufer Dorando Pietri 1908.

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Wer den Ansprüchen des Leistungsimperativs gehorcht, hat nicht nur im Erwerbsleben gut zu tun. Längst hat der Neoliberalismus die Maske der Fürsorge fallengelassen. Vorbei die Zeit, als die gezielte Lockerung der Arbeitsorganisation mehr Selbstentfaltung verhieß. Dabei schien es, als würde Dienstnehmern mehr Platz für die Sorge um das Selbst eingeräumt. Kein Wunder: Vor 50 Jahren wurde in den Industrieländern Kritik an der "Leistungsgesellschaft" laut.

Demgegenüber entdeckte man die Selbstverwirklichung als Wirtschaftsfaktor. "Strebertum" wurde als Produktivkraft erkannt. Eine Zeitlang propagierten die Lenkungstechniker am Arbeitsmarkt regelrecht symbolisches Eigenblutdoping. Nur wer biegsam genug schien, um sich den je wechselnden Erfordernissen anzupassen, besaß begründete Aussicht auf Anerkennung.

Heute ist Flexibilität eine Norm. Sie zwingt Beschäftigte im Niedriglohnsektor dazu, auch unter unsozialen Bedingungen Lohnarbeit zu verrichten. Selbstausbeutung bildet die Grundlage für "Leistungsbereitschaft": noch immer und schon wieder. Denn eigentlich ist "Leistung" ein junger Begriff. Ambivalent genug, um ihn nicht allein den Neoliberalisten zu überlassen.

Geselligkeit statt Selbstoptimierung

Wer in Konversationslexika des frühen 19. Jahrhunderts blättert, wird auf keine Definition des Wortes "Leistung" stoßen, die heutigen Auffassungen genügt. Gewiss, das Bekenntnis zum Arbeitsethos ist bürgerlichen Ursprungs. Komplizierter verhält es sich mit der Bindung von Einkommen an Leistung. Die Bereitschaft, positiv gestimmt ein Maximum aus sich herauszuholen, galt wenig in den Augen frühmoderner Bürger. Die verhielten sich lieber gesellig.

Keine Spur zunächst von Leistung als systematisch steigerbarer Größe, die man auf ein bestimmtes Individuum zurückführt, um dessen Wert zu bestimmen. Leistung als Produkt moderner Messtechnik stammt aus dem 19. Jahrhundert. Rührige Physiologen standen unter dem Eindruck der Dampfmaschine. Der Mensch wurde nicht mehr als leibseelisches Dualwesen aufgefasst, sondern als – pflegebedürftige – Maschine. Die Überwindung von Widerständen durch Kraft wurde zum Anstoß, für jede denkbare Leistung die dazugehörige Skalierung zu erfinden.

Noch wesentlicher scheint eine zweite Bedeutungsspur. "Leistung" stammt, als transitives Verb aufgefasst, aus dem juristischen Diskurs. Als Schlüsselbegriff des Bürgerlichen Gesetzbuches bezeichnet das "Leisten" das Recht von Privatpersonen, untereinander in Rechtsbeziehungen zu treten. Dabei gilt es, für vereinbarte Leistungen Äquivalenzen herzustellen: Ansprüche zu bekunden, auf die Klärung von Schuldverhältnissen zu dringen etc.

Der Staat als Protektor

Mit der Einführung von Dienstverträgen auch für das "Gesinde" wurde das Leistungsverständnis um 1900 neu geordnet. Damit trat der (fordernde und gebende) Vater Staat als Verteiler von Leistungen auf den Plan. Indem er Erzeugnisse unter Zollschutz stellte und Steuern einhob, schlüpfte er in die Rolle des Protektors. Er nahm sich des Bildungswesens an. Zugleich wurde er zum Umverteiler, der allzu krasse Auswirkungen der Marktdynamik einhegte. Mit der Leistung von Transferzahlungen wurde eine konkurrenzlustige Auffassung von "Verdienstlichkeit" merklich gebremst.

Über Sinn und Unsinn des Leistungsbegriffs lässt sich nach Lektüre von Nina Verheyens kleiner Monografie Die Erfindung der Leistung trefflich streiten (die Autorin ist Historikerin in Köln). Vom Tisch sein sollten allzu hochtrabende Auffassungen davon, wie etwas zu Leistendes auszusehen habe. Jede individuelle Zuschreibung von Leistung entbehrt nicht des Hintersinns, stets von einem Kollektiv von Juroren zu stammen. Jedes Bewertungskriterium der Welt ist das Ergebnis von Absprachen.

Umgekehrt sollte man nicht ratlosen Lobbyisten die Frage überlassen, was denn nun ihre Leistung gewesen sei. Der Staat ist verpflichtet, seine Angehörigen in den Genuss von Leistungen zu bringen. "Tüchtigkeit" darf dafür keine ideologische Rolle spielen. (Ronald Pohl, 24.4.2018)