Rosa Eidelpes

Foto: Nadine Stenzel

Im Zuge der Conquista, der Eroberung Lateinamerikas durch Spanien im 16. Jahrhundert, wurden das Reich und die Kultur der Azteken fast vollständig zerstört. Da auch sehr wenige Schriften und Artefakte erhalten sind, weiß man über die indigene Bevölkerung vor allem das, was die spanischen Inquisitoren über sie aufgeschrieben haben. "Man kann schwer rekonstruieren, was vor den Kolonisatoren da war", sagt die Literatur- und Kulturwissenschafterin Rosa Eidelpes. Sie erforscht die unterschiedlichen Vorstellungen von Natur, mit denen die Kolonisatoren das Wissen über die sogenannte Neue Welt aufzuzeichnen und zu ordnen versuchten. Als Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuni Linz hat Eidelpes zuletzt ihr Postdoc-Projekt vor, das sie nun an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule der Freien Universität Berlin durchführt.

Ein wichtiges Ordnungssystem der Kolonisatoren, das Eidelpes in ihrer Arbeit untersucht, ist die Enzyklopädie. Zentral dabei ist die Historia general de las cosas de Nueva España ("Universalgeschichte aller Dinge Neuspaniens"). Es handelt sich dabei um eine enzyklopädische Schrift, die der spanische Franziskanermönch Fray Bernardino de Sahagún zwischen 1558 und 1579 in Mexiko anfertigte. Damals habe die Wissenschaft ihre Aufgabe darin gesehen, die Natur in ihren Texten in eine richtige Ordnung zu bringen. Eidelpes interessiert, wo die Spanier mit diesem Ordnungssystem an ihre Grenzen gestoßen sind.

Das Besondere an Sahagúns Arbeit ist, dass er sie gemeinsam mit aztekischen Informanten verfasste, darunter auch seine Lateinschüler: Söhne der aztekischen Oberschicht, die das Massaker durch Hernán Cortés und die spanischen Kolonisatoren einige Jahre zuvor überlebt hatten. Sie halfen Sahagún dabei, sich über die Lebensweise und Kultur der Azteken zu informieren. "Bereits die Art der Aufzeichnung ist dabei sehr interessant", sagt Eidelpes: Die aztekischen Informanten gingen für Sahagún in die Dörfer und sprachen mit den Ältesten. Diese erzählten ihnen die Geschichten, zum Beispiel über ein bestimmtes Tier, das für ihre Kultur wichtig sei, und beschrieben eine symbolische Szene.

So trugen die aztekischen Schüler zur Entstehung der Enzyklopädie bei. Dabei kann beobachtet werden, dass sich die Spanier ein Stück weit an die Kulturtechniken der Azteken anpassten. Hier erkennt man Brüche in der Ordnung der Enzyklopädie. "Es kommt zum Beispiel eine Schlange im Paragrafen über Ameisen vor, weil diese häufig in Ameisenhügeln lebt", nennt Eidelpes ein Beispiel. "Hier wurde wahrscheinlich eine Ordnungskategorie der Azteken angewandt."

Die These des Forschungsprojekts ist es, dass solche Irritationen keine vereinzelten Irrtümer sind, sondern darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit der Neuen Welt die Europäer zwang, ihre Wissenstradition zu überdenken. Eidelpes geht es darum, das kulturelle Selbstverständnis der Moderne zu hinterfragen. Die Frage, wie sich der Mensch der Natur gegenüberstellt, ist nicht zuletzt in Zeiten zunehmender menschengemachter Umweltbelastung sehr aktuell. (grill, 29.4.2018)