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Die Alhambra, das steinerne Vermächtnis der Mauren in Spanien, wird heute noch immer ungläubig bestaunt.

Foto: AP/Victor R. Caivano

Es wäre möglich gewesen", bemerkte der Historiker Edward Gibbon mit Blick auf die Invasion der Araber in Frankreich und Spanien ab dem achten Jahrhundert, "dass der Koran in den Schulen von Oxford gelehrt und von den Kanzeln einem beschnittenen Volke Offenbarungen Mohammeds verkündet worden wären". Gibbon, zwar wie viele seiner Zunft um eine antiarabische und rassistische Bemerkung nicht verlegen, verstand letztlich sehr wohl, dass Europa und die arabische Welt Teil eines "historischen Weltsystems" sind.

In einem solchen System können sich die Positionen des Zentrums und der Peripherie immer wieder verschieben. Im Fall der arabischen Invasion Europas erkannte man, dass die vormalige Peripherie, die weiten arabischen Gebiete der ehemaligen Provinzen des römischen Ostens, des Orients, nun zum Zentrum wurden. Europa wurde zur Peripherie. Noch im ausgehenden 14. Jahrhundert bemerkte der berühmte arabische Philosoph Ibn Khaldun über Europa: "Weiß Gott, was dort vorgeht".

Historisch gesehen, kein einmaliger Vorgang. Oft werden neue Paradigmen, Religionen und Erfindungen von der Peripherie ins Zentrum getragen und dieses sogar übernommen, so wie etwa die Steppenvölker Asiens den Drachenthron der Verbotenen Stadt bestiegen. Der Versuch so mancher Politiker und Experten, die islamische bzw. arabisch-semitische Kultur als "nichtwestlich", als Gegensatz zur "westlichen" Kultur darzustellen, geht deshalb an den Realitäten vorbei. Um 700 war die islamische Welt das Zentrum des gemeinsamen Raumes.

Historische Verkettungen

Letztlich war aber der Griff der Araber nach Europa nur ein weiterer Schritt in einer langen Abfolge an historischen Verkettungen Europas mit den semitischen Völkern des Nahen Ostens. Dieses mag für viele Europäer eine neuartige Perspektive sein, und es gibt politische Gründe, die gemeinsame Historie in Vergessenheit geraten zu lassen. In der geläufigen westlichen Darstellung wird etwa vielleicht noch die Übersetzungsleistung der Araber hervorgehoben, die die griechischen Klassiker der Antike retteten. Wenig bekannt ist aber, dass die Griechen die Wurzeln ihrer Wissenschaft und Kultur durchaus auch im semitischen Osten, konkret in Babylon (Irak) und Phönizien (Libanon) sahen, von hier bezog man mathematische Lehrsätze der Astronomie, übernahm Inspirationen aus der Literatur und das Alphabet.

Nach der Eroberung des Ostens durch Alexander, der diesen Raum erstmals mit Europa vereinigen wollte, aber zu früh starb, um dies umzusetzen, schrieben viele Araber und andere Semiten – sie nannten sich als Abgrenzung gegenüber den Nomaden der Arabischen Halbinsel oftmals "Syrer" – auch auf Griechisch, so wie Wissenschafter heute Englisch verwenden.

Der Satiriker Lukian, der sich als einen solchen Syrer bezeichnete, spielt in einer Episode in seinen Wahren Geschichten auf diese semitischen Wurzeln an: Sein Reisender trifft auf einer geheimnisvollen Insel auf Homer und fragt ihn, wo er denn herkäme – diese Frage sei ja noch leidlich unklar. "Ich komme", antwortet Homer, "aus Babylon. Mein Name war Tigranes, und ich kam als Geisel (Homeros) nach Griechenland." Natürlich machte Lukian schon anfangs klar, dass seine Geschichten erfunden seien, aber der Witz über den griechischsten der griechischen Dichter hätte wohl nicht funktioniert, wenn die Leser nicht durchaus gewusst hätten, dass die Wurzeln ihrer Literatur im Nahen Osten liegen.

Nach den Griechen übernehmen die Römer den Nahen Osten und Nordafrika. Rom war seit jeher vom Osten fasziniert. Die Expansion des Reiches im Westen wurde vom Atlantik und den Wäldern Germaniens begrenzt, und schließlich sah sich Rom in der Tradition des asiatischen Troja. Kaiser Trajan erreicht die Ufer des Persischen Golfs, eine Invasionsarmee versuchte zuvor bis in den Jemen vorzudringen. Der Einfluss der Araber im Römischen Reich nahm stetig zu, sie wurden durch den Erlass Caracallas im Jahre 212 römische Bürger. Caracalla selbst war Sohn einer syrischen Prinzessin und einer von drei Cäsaren halbarabischer Abstammung.

Dieser arabische Einfluss auf das Römische Reich erreichte mit dem in Syrien geborenen Marcus Iulius Philippus, auch Philippus Arabs genannt, im dritten Jahrhundert einen Höhepunkt. Diese Cäsaren wurden auch deshalb bekannt oder verachtet, weil sie protomonotheistische Einflüsse ihrer Heimat nach Rom brachten und so den Boden für das Christentum vorbereiteten. Philip war vielleicht sogar der erste Cäsar, der privat christlichen Glaubens war. Der Einfluss des Ostens wurde letztlich so stark, dass Rom selbst in den Osten zog, nach Konstantinopel, und dort noch Jahrhunderte währte.

Fataler Sieg

Der Verlust des Orients im siebenten Jahrhundert, ausgelöst durch den Sieg der islamischen Truppen in Syrien, führte relativ schnell dazu, dass der Osten seine arabisch-semitischen Züge stärken konnte. Dieser Sieg war für Europa fatal. Es verlor mit dem Nahen Osten sein religiöses Kerngebiet, seine ältesten Gemeinden und musste sich neu erfinden. Dieser Neuanfang verlangte, dass die arabisch-semitischen Elemente abgestreift werden mussten, selbst die arabischen Christen des Orients gerieten in Vergessenheit.

Das Christentum wurde als atlantische Religion neu konzipiert. Der Araber – der fast eintausend Jahre Teil des hellenistisch-römischen Reiches war – wurde zu einem "Anderen". Die gemeinsame Geschichte hatte in solch einem Kontext keinen Platz mehr. In Vergessenheit gerieten etwa die vielen arabischen Handelskolonien in europäischen Städten, wie Lyon, Marseille, Trier, Grenoble, in welchen man noch bis in das sechste Jahrhundert auch Aramäisch, die Verkehrssprache des Nahen Ostens, hören konnte. Allerdings, selbst in dieser Situation blieb ein Einfluss spürbar, so kamen zwischen 640 und 740 drei Päpste aus Syrien und hatten wohl entsprechenden Einfluss auf die Liturgie der römischen Kirche.

Auch in der europäischen Kultur blieb ein Nachhall erhalten. Der arabische Stamm der Udra etwa wanderte aus dem Jemen nach Südspanien ein und beeinflusste mit seiner Poesie die europäische Literatur, und so konnte der deutsche Dichter Heinrich Heine Jahrhunderte später sein bekanntes Gedicht über den arabischen Stamm der Asra schreiben, "welche sterben, wenn sie lieben".

Gehören die Araber zu Europa? Der Araber als der Andere, so viel ist klar, ist ein neuartiges politisches Konzept, das auf Verdrängung und Vergessen setzt. Die Auseinandersetzung mit Arabern und ihrer Kultur sollte es notwendig machen, dieses Vergessen infrage zu stellen, um ein neues und engeres Miteinander zu erreichen, das auf einer Anerkennung der gemeinsamen Geschichte beruht. (Ayad Al-Ani, 29.4.2018)