Laut gängiger Legende bekam den Maria-Theresien-Orden, wer einen Befehl verweigerte und dadurch eine Schlacht gewann. Wie bei dem Maria-Theresien-Orden geht es auch beim nunmehr in die Medien geratenen Golan-Fall weder um Befehlserfüllung noch um Befehlsverweigerung. Wenn als Teil der Uno-Mission die Order "Nicht einmischen" heißt, dann konnte eine Situation wie jene, mit der die Soldaten in dem Video konfrontiert waren, nicht vorhergesehen werden.

So ist es mit jedem Befehl im Militär, so ist es mit jeder Regel in der Firma, und so ist es mit jedem Gesetz, dessen Einhaltung Ordnungshüter gewährleisten müssen. Befehle, Regeln, Gesetze werden nie einfach angewendet, sie müssen von Menschen der jeweiligen Situation angemessen interpretiert werden. Nur dadurch können sich Menschen von Maschinen unterscheiden. Tatsächlich zeigen unsere Untersuchungen und Gespräche mit Offizieren des österreichischen Bundesheers viele Beispiele, wo – eben auch in den Krisenherden auf dem Golan, im Kosovo oder in Syrien – und unter welchen Voraussetzungen dies funktioniert und Menschen rettet! Zwei dieser zentralen Voraussetzungen waren bei den Soldaten im gegenständlichen Golan-Fall offenbar nicht gegeben.

Üben, üben, üben

Erstens: eine langjährige Ausbildung, in der die Geschichte der Entstehung verschiedener Strategien, Taktiken und daraus abgeleiteter operativer Regeln und Befehle gelernt, diskutiert, vor dem Hintergrund allgemeiner Theorien reflektiert und in Übungen immer wieder durchgespielt wird. In anderen Kontexten als dem Militär bezeichnen wir das als Hintergrundwissen über Handlungstheorien und ihre Entstehung. Erst dieses Hintergrundwissen versetzt Soldaten, aber eben auch Manager oder Beamte in die Lage, Befehle, Regeln und Gesetze in einer konkreten und nicht vorhersehbaren Situation zu interpretieren und anzuwenden. Oder eben – wie im konkreten Golan-Fall – nicht anzuwenden: Man "mischt sich nicht ein", wenn man verhindert, dass jemand in den Tod fährt!

Zweitens: Im Militär, aber auch in vielen anderen Bereichen bleibt für Interpretation oft wenig Zeit. Über Tod oder Überleben entscheiden manchmal Sekunden. In der Wirtschaft sind es selten Sekunden, dennoch verhindert manchmal Zeitdruck längere Diskussionen und Reflexionen. Schnelles, reflexartiges und professionelles Handeln erlernt man durch Drill: immer wieder die gleiche Routine dutzende, vielleicht hunderte Male durchexerzieren, trainieren. Die Soldaten auf dem Golan haben wahrscheinlich diesen Drill durchgemacht. Er genügt aber nicht. Es stellt sich heraus, dass nur jene in der Lage sind, in unvorhergesehenen Situationen sowohl schnell als auch richtig zu handeln, welche den Drill in verschiedenen Situationen erlebt haben. Ein Training in der Kaserne oder auf dem Truppenübungsplatz ist eine Sache. Wer aber nicht ähnliche Trainings, etwa als Bergführer in den Alpen, als Retter bei Katastropheneinsätzen oder eben in verschiedenen Krisenherden, erfahren hat, der wird bei der ersten echten Krise überfordert sein – so wie wir es in diesem Video vom Golan nun sehen müssen.

Leben und Tod

Ein zynischer Vergleich: In der Wirtschaft würde man kaum auf die Idee kommen, jungen Mitarbeitern, die erst eine ein- oder zweijährige Ausbildung hinter sich haben, über Millionen Euros entscheiden zu lassen. Die Ausbildung der Soldaten auf dem Golan war kaum länger – und sie hatten über Leben und Tod zu entscheiden. Langjährige Ausbildung, mehr noch Bildung und das Ermöglichen vielfältiger Erfahrungen sind wichtiger als die neuesten Waffen, die modernste Aufklärungstechnologie bis hin zur Unterstützung durch künstliche Intelligenz.

Wahrscheinlich ist dies die einzige Kompetenz, welche uns Menschen zumindest noch für lange Zeit den Robotern überlegen macht: die über Bildung, Ausbildung und vielfältige Erfahrung erworbene Fähigkeit, die Unwägbarkeiten neuer Situationen zu interpretieren und entsprechend angepasst zu handeln. Ein Roboter jedenfalls hätte nie den Maria-Theresien-Orden bekommen. (Rainer Born, Eva Gatarik, Johannes M. Lehner, 1.5.2018)