Wifo-Chef Christoph Badelt entwickelt seine Visionen für die nächsten 100 Jahre Republik in sieben Utopien.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Ich weiß nicht, wie Österreich in 100 Jahren aussehen wird. Aber ich habe viele Wünsche, wie es wenigstens in zwanzig Jahren aussehen sollte. Diese Wünsche gehen von den Unvollkommenheiten der Gegenwart aus und entwickeln sich in meinen Träumen zu Utopien; vielleicht sollte ich auch sagen, zu naiven Hoffnungen, wie es in der Zukunft einmal sein wird:

Utopie eins

Wir leben in einem Land, in dem die wirklich großen gesellschaftlichen Probleme ernst genommen werden, sodass ihre Lösung ganz oben in der Prioritätenskala der Politik steht. An der Spitze der Skala stehen die weltweiten sozialen Spannungen und die immer dringender werdenden ökologischen Probleme; und der Zusammenhang zwischen diesen Themen. Es stimmt schon: Weltweit gesehen ist die Armutsgefährdung in den letzten Jahren zurückgegangen.

Aber das nutzt denen nicht, die zum Beispiel im östlichen Europa, im Nahen und Mittleren Osten oder in Afrika unter Bedingungen leben, die man hierzulande nicht als lebenswert bezeichnen würde; und die keine Chancen sehen, aus Gewalt, Hunger und Elend zu flüchten, um im scheinbar heilen Europa eine neue Zukunft zu suchen; die in den nächsten Jahrzehnten durch den Klimawandel viel stärker bedroht werden als die Bewohner einer Hochwasserzone in Österreich; und die auf irgendeinem Weg als "Flüchtlinge" oder "Migranten" in Europa ankommen und von uns – weil wir uns anders nicht mehr helfen können – immer mehr schikaniert werden, damit sie wieder zurückgehen; in jene Länder, die wir laut politischen Sonntagsreden mit "Hilfe vor Ort" unterstützen – wovon sie aber bislang nur wenig gemerkt haben.

Utopie zwei

Wir leben in einem Land, in dem es zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Anliegen einen fairen Ausgleich und echte Kompromisse gibt. Zur "Fairness" gehört vor allem, dass alle drei Zieldimensionen in politischen Auseinandersetzungen gleich bewertet und daher ernst genommen werden; womit die Vertreter sozialer Anliegen nicht mehr nur naive "Gutmenschen" und die Mahner im Dienste der Umwelt nicht bloß "ökologischen Fundis" sind; wo diejenigen, die auf die wirtschaftliche Entwicklung schauen, nicht nur als böse "Neoliberale" und "Ausbeuter" beschimpft werden. In dieser Haltung werden dann schwierige wirtschaftspolitische Themen wie die materielle Sicherung alter Menschen, die Versorgung Pflegebedürftiger, die Sorge um langzeitarbeitslose Menschen, die Integration von Menschen mit Asylstatus, die sich in Österreich noch nicht zurechtfinden, usw. gelöst. Die Lösung sieht unter anderem vor, dass soziale und ökologische Mindeststandards gesellschaftlich außer Streit stehen und auch in der Budgetpolitik nicht infrage gestellt werden; es aber auch denkbar ist, dass bei Bau- oder Investitionsprojekten einmal ökologische Anliegen zurückstehen, solange insgesamt eine glaubwürdige Klima- und Umweltpolitik gemacht wird.

Utopie drei

Wir leben in einem Land, das sich als aktives und engagiertes Mitglied Europas sieht und das in der Weiterentwicklung dieses Europas eine wichtige Rolle spielt; das die Rolle Europas in der Friedenssicherung sieht, sodass Länder, die demokratische Grundwerte hochhalten, partnerschaftlich zusammenleben und es nicht zulassen, dass Pluralismus und Meinungsfreiheit unter irgendwelchen Vorwänden beschränkt oder abgeschafft werden. Wir haben realisiert, dass sich die Aufgabe Europas nicht darauf beschränken kann, durch ökonomische Integration ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen; sondern dass es auch darum geht, innerhalb Europas einen sozialen Ausgleich zwischen den Ländern, aber auch innerhalb der Mitgliedsländer zu erzielen – damit Wachstum nicht zulasten einzelner Gruppen oder (durch Ignorieren der Umweltprobleme) zulasten künftiger Generationen geht. Deshalb wirken wir bei der Umsetzung europäischer politischer Vorhaben, zum Beispiel in der Umwelt-, der Sozial- oder Steuerpolitik mit; und wir setzen Initiativen, dass Europa auch seine Verantwortung nach außen wahrnimmt, zum Beispiel gegenüber den Menschen in wenig entwickelten Ländern.

Utopie vier

Wir leben in einem Land, in dem über die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht mehr diskutiert wird, weil das Problem der Vergangenheit angehört; wo es keine peinlichen Auseinandersetzungen über Binnen-I oder Quotenfrauen gibt, weil die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern insgesamt ausgewogen, die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen gesichert und die bezahlte wie unbezahlte Arbeit gleichmäßig zwischen Männern und Frauen verteilt ist; wo sich daher niemand mehr in der Politik damit profilieren muss, elementare Frauenrechte einzumahnen oder die Abschaffung der Political Correctness zu verlangen.

Utopie fünf

Wir leben in einem Land, das den Populismus überwunden und ihn durch einen ehrlichen und offenen Diskurs über gesellschaftliche Werte und alternative Ziele ersetzt hat. Wir haben uns von der Generation jener Politiker befreit, die undifferenziert Feindbilder aufbauen und Ängste schüren; die sich darauf konzentrieren, der Bevölkerung radikale Lösungen von Problemen vorzuschlagen, welche maßlos übertrieben dargestellt oder überhaupt frei erfunden sind. An ihre Stelle sind Politiker getreten, die Marketing zwar als Ausdruck eines Wettstreits zwischen konkurrierenden Kräften praktizieren, aber es nicht an die Stelle sachlicher Lösungsvorschläge setzen; die Kritik von politisch Andersdenkenden oder von Unabhängigen ernst nehmen und als Anstoß für die Verbesserung ihrer Pläne verwenden; die engagiert arbeiten und am Abend in den Spiegel schauen können.

Utopie sechs

Wir leben in einem Land, in dem eine neue Generation von Politikern von Staatsbürgern gewählt, unterstützt, aber auch gefordert wird, die verstanden haben, dass es für den Fortschritt nicht reicht, am Biertisch oder im verrauchten Intellektuellentreff zu schimpfen; die sich nicht von den Predigern naiver Schlagworte verführen lassen, sondern die die Eigeninteressen dieser Prediger erkennen und einzuordnen vermögen; und die lautstark öffentlich auftreten, wenn sie jemand für blöd verkaufen will.

Utopie sieben

Wir leben in einem Land, in dem die Menschen in einem Gesellschafts- und Bildungssystem aufgewachsen sind, das es ihnen erlaubt hat, so lange Kind zu sein, wie sie das gebraucht haben, um gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln; die nicht schon im Volksschulalter in einen krankmachenden Wettbewerb geworfen worden sind, weil sie erfolgreicher werden müssen als ihr Nachbar; die von klein auf gefördert und unterstützt worden sind, sodass sie ihre Anlagen gut nutzen und solcherart einmal freiwillig Freude an Leistung und Erfolg entwickeln konnten; die nicht auf sozialen Abstellgleisen gelandet sind, weil sie nicht die Gnade engagierter und fördernder Eltern oder Lebensbedingungen gehabt haben.

Dieses Österreich im Jahre 2038 ist von Generationen gestaltet, die in den kraftvollsten Jahren ihres Lebens Chancen bekommen haben, die ihnen die Erfindung von Neuem, die Erweiterung ihres geistigen Horizonts und die Entwicklung eines hohen Maßes von Verantwortung und Selbstständigkeit ermöglicht haben; die sich nicht vor technischen oder sozialen Innovationen wie der Digitalisierung gefürchtet haben, sondern diese aktiv betrieben und in den Dienst der sozialökonomischen Entwicklung gestellt haben; die solcherart gar nicht auf die Idee gekommen sind, bei Problemen zuerst nach dem Staat zu rufen, sondern die die Kraft und das Selbstvertrauen zur Selbsthilfe besitzen.

Die Menschen in diesem Österreich finden sich dadurch in einem Land wieder, das wirtschaftlich erfolgreich ist; das die jeweils modernste Technik in den Dienst der Lebensqualität stellt; in dem man daher gerne lebt und das auch sozial und kulturell als Vorbild gilt; und das insgesamt optimistisch in die Zukunft blicken kann, sogar bis 2118.(Christoph Badelt, 23.6.2018)