Der Deutsche-Buchpreis-Gewinner Bodo Kirchhoff.

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Für zimperlich hat den deutschen Autor Bodo Kirchhoff noch keiner gehalten. Wer jemals zu Kirchhoff-Büchern wie Die Einsamkeit der Haut oder zu der säuerlich nach Altherrenschweiß duftenden Novelle Widerfahrnis gegriffen hat, durfte sich als Genießer erotischer Vollwertkost glücklich schätzen.

In der neuen Ausgabe von Der Spiegel lässt Kirchhoff keinen Zweifel daran, dass er in seinem gehörig auslappenden Werk Sprache und Sexualität, wie er sagt, miteinander "versöhnen" möchte. Was schon deshalb ein Ding der Unmöglichkeit ist, weil häufig genug die nackte Tatsache, die man offenlegt, nur ein anderer Ausdruck für die Blöße ist, die man sich sprachlich gibt.

Kirchhoffs sexualkundlicher Eifer wäre dem Hamburger Nachrichtenmagazin allein bestimmt noch kein Interview wert gewesen. Doch hat der Deutsche-Buchpreis-Gewinner von 2016 einen neuen Titel am Start. Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre nennt sich das neue Opus. In ihm erzählt Kirchhoff über sexuelle Übergriffe, die ihm in zartester Jugend widerfuhren.

Zärtlichkeiten mit eigener Mutter

Dem Missbrauch durch einen Internatslehrer gingen, so Kirchhoff, Zärtlichkeiten mit der eigenen Mutter voraus. Der Drei- oder Vierjährige soll sie "auch an intimeren Stellen" eingecremt haben. Und man wundert sich über einen Bekenntniszwang, der jeder allfälligen Lektüre des Buches mit dem voreiligen Druck auf seine intimsten Stellen vorgreift. So wenig Glaube an die Überzeugungskraft der eigenen Literatur schmerzt.

Einmal ins Plaudern gekommen, weiß Kirchhoff auch in nichterotischen Sujets mit Sentenzen – die er ob ihrer Kurzatmigkeit doch eigentlich hasst – zu punkten. Er ärgert sich zum Beispiel, dass "wir in Deutschland jeden Schund übersetzen" ("Wir sind, das muss man sagen, letztlich kulturelle Kolonie"). Und er fragt stiefväterlich, ob Kollege Christian Kracht, der unlängst seinen eigenen Missbrauchsfall öffentlich gemacht hat, in der Vorlesung, die er hielt, "der war, der er sein muss".

Hoffentlich weiß Kracht, wer er laut Kirchhoff zu sein hat. Dann darf er vielleicht auch mit der Tatsache herausrücken, dass er missbraucht worden ist. Kracht wäre, das muss man sagen, letztlich der von Kirchhoff Kolonisierte. (Ronald Pohl, 26.6.2018)