Uwe Timm, "Ikarien". € 24,70 / 506 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017

Foto: Kiepenheuer & Witsch

Es beginnt als Stunde-null-Roman: 1945 liegt Deutschland in Trümmern, der Nationalsozialismus ist besiegt, amerikanische Soldaten verteilen Kaugummis, Nylonstrümpfe, Zigaretten. Einer von ihnen ist Michael Hansen, aus Deutschland gebürtiger US-Offizier, der mit einem Sonderauftrag nach München und an den Ammersee entsandt wird: Er soll die Forschungsunterlagen eines 1940 verstorbenen Rassentheoretikers sichten und Zeugen befragen.

Über mehrere Monate entsteht so ein Protokoll des Rassenwahns, das sich wie ein Begleittext zur moralischen Niederlage Deutschlands liest. Darin finden sich Sätze wie: "Mitleid widerspricht dem Kampf ums Dasein." "Das Alte muss fallen. Das ist ein Naturgesetz. Alles andere ist soziale Sentimentalität." Diese empathielose Kernbotschaft kommt aus dem Mund des Mediziners Dr. Ploetz, bei dem es sich um keine erfundene Figur handelt: Alfred Ploetz (1860-1940) gilt als Erfinder der Eugenik, und er prägte den Begriff "Rassenhygiene". Von da weg war es nur noch ein Schritt zum wahnhaften Auslese- und Vernichtungsprogramm der Nazis.

Friede und Sozialismus

Die Anfangsgeschichte dazu – die im 19. Jahrhundert noch ganz idealistisch beginnt – entwickelt Uwe Timm auf der zweiten Ebene des Romans. In Breslau gründet Ploetz, damals noch Student der Nationalökonomie, mit Gleichgesinnten den Verein Pacific, mit dem Ziel, eine neue auf Frieden und Sozialismus beruhende egalitäre Gesellschaft zu schaffen. Angeregt werden sie dabei von Étienne Cabet, der dieser Utopie den Namen Ikarien gab und 1848 in den USA die Gründung einer Kommune initiierte, in der alle Menschen in Brüderlichkeit und Gleichheit leben sollten.

Insoweit ist Timms Roman ideengeschichtlich und semidokumentarisch, gleichzeitig eine grandiose Erzählung, auch so etwas wie ein politischer Entwicklungsroman. Timm stellt der realen Person Ploetz die Figur Karl Wagners entgegen, zunächst Studienfreund und Mitarbeiter von Ploetz, später sein schärfster Kritiker, und nicht zuletzt Erzähler der Binnenhandlung.

Zucht und Züchtigung

Der Name Wagner ist natürlich nicht zufällig gewählt, es ist schließlich eine faustische Geschichte, in der viel von der Verbesserung der Welt und vom idealen Menschen die Rede ist. Anfangs ist es tatsächlich "soziale Sentimentalität": Ploetz und Wagner reisen 1884 sogar nach Amerika, um in einer der Ikarier-Kolonien das "Experiment zur Gründung einer neuen menschlichen Gesellschaft" zu studieren. Doch Ploetz geht das in der Praxis nicht weit genug: Schwächen gehören ausgemerzt, der Mensch durch Züchtung "veredelt".

Zu den Anhängern dieser Idee zählt damals auch Gerhart Hauptmann (in dessen Drama Vor Sonnenaufgang Ploetz übrigens als Figur vorkommt). Dem "Pacificer" Hauptmann schwebt gar "eine Aufzucht schöner, gesunder, attischer Menschen" vor.

Wie das mit der Sozialkritik seiner Stücke, dem Elend der schlesischen Weber zusammengeht? Eher mit Darwins Kampf ums Dasein, dem Gesetz der Auslese. Genau dieser Prozess, wie aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis letztlich eine menschenverachtende Ideologie wird, spaltet die einstigen Freunde: Ploetz wird Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenpolitik, Wagner landet in Dachau. Immerhin setzt sich Ploetz für ihn ein und erreicht die Befreiung aus dem Konzentrationslager. Sein Weltbild kann der Terror des Naziregimes allerdings nicht erschüttern: "Wir haben den Schlüssel für die Naturgesetze in der Hand", verkündet Ploetz. "Die Weltformel. Alles ist machbar."

Früh schon geht es dem Mediziner um "Zucht und Züchtigung", für ihn gibt es nur Wille und Verstand. Begriffe wie "Aufartungsprozess", "Ballastexistenzen" geistern durch das Buch. Mitleid ist dem Eugeniker so fremd wie die Demut vor dem Leben, vor der Einmaligkeit des Einzelnen.

Stattdessen geht es darum, den "Tüchtigen" aus der Masse der "Schwachen" zu selektieren. Welche Tüchtigkeit ist das, fragt Wagner, die "Tüchtigkeit zum Töten"? Es ist kein Zufall, dass die Mörder in den Euthanasieanstalten später ihre Karrieren im Holocaust fortsetzten. "Übermenschen in kackbrauner Uniform", so der ehemalige Freund, der erkennt, wie die Utopie zum staatlich organisierten Mordplan ausartet. Ein "Garten Eden", in dem alles, was nicht in ihn passt, "ausgejätet" wird.

Gefährliche Weltverbesserer

Dass dieser Abgrund mit deutscher Wissenschaft, deutscher Kultur zu tun hat, ist der Kontext dieses Romans. Aber auch die Frage, wie aus einem Sozialutopisten ein Rassenideologe wird, aus einem linken Pazifisten ein Faschist? Und wie schmal ist der Grad, wenn es um die "Veredelung" des Menschen geht?

Diese Problemstellung hat Timm beeindruckend zum Thema gemacht, indem er die unterschiedlichen Lebenswege des Arztes und seines ehemaligen Mitarbeiters entwickelt. "Er hätte ein bedeutender Arbeiterführer werden können", lässt er diesen über Ploetz sagen, wäre nicht der Drang des Forschers gewesen, "die Welt zu erkennen und vor allem zu verändern." Sind Weltverbesserer die gefährlichen Menschen?

1978 hatte Uwe Timm das Romanprojekt erstmals auf dem Schreibtisch liegen, doch fand er damals keine epische Struktur. Nun sorgt eine kluge Erzählkonstruktion dafür, dass aus dem theoriebeladenen Stoff eine allgemeingültige wie persönliche Geschichte wurde. Für den Autor auch naheliegend genug: Seine Frau ist die Enkelin von Alfred Ploetz.

Das kommt in dem Buch nicht zur Sprache, ist aber relevant, weil Timm immer wieder zeitgeschichtliche Themen und eigene Familiengeschichte als Romanvorlagen nimmt. Ikarien ist, so gesehen, ein sehr deutscher Roman, ein bemerkenswertes und gelungenes Werk, das in jedem Fall auf die Auswahlliste des Deutschen Buchpreises gehört hätte. (Gerhard Zeillinger, Album, 22.7.2018)