Was vor wenigen Wochen noch undenkbar schien, ist nun Realität. In der Regierung rumort es. Die glatte Fassade einer harmonischen Koalition bröckelt, in der Kanzlerpartei geht es rund, die schwarzen Ländergranden melden sich energisch zu Wort, und im Arbeitnehmerbund ÖAAB kocht es wegen des Zwölfstundentags. Währenddessen fallen die Freiheitlichen augenscheinlich wieder aus der Regierungsrolle. Der EU-Abgeordnete Harald Vilimsky reitet geschmacklose Attacken gegen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und schmäht das "politische Establishment", dem die FPÖ längst selbst angehört, so sehr, dass es sogar dem ansonsten eher entspannten Bundespräsidenten reicht.

Und der Kanzler? Er schweigt zu alledem und lässt sich lieber mit Arnie in Los Angeles fotografieren.

Schweigen als Strategie

Die Frage ist: Tut Sebastian Kurz das Richtige? Ist "Augen zu und durch" eine Erfolgsdevise – nicht nur beim Durchpeitschen wichtiger Gesetze durch das Parlament?

Auf den ersten Blick ist es wohl die richtige Strategie. Ein Bundeskanzler muss die großen Linien vorgeben, er muss die Grundsätze seiner Regierungspolitik erklären. Wer sich in das Klein-Klein des alltäglichen politischen Hickhacks begibt, läuft Gefahr, sich selbst und das Amt zu beschädigen. Auch Angela Merkel schweigt oft. Aber wenn es darum geht, die politische Hygiene im Land wiederherzustellen, bezieht sie sehr wohl Stellung.

Das wäre auch Kurz' Aufgabe in der Causa Vilimsky. Wenn er sich schon selbst nicht äußern will, müsste er zumindest seinen Vizekanzler Heinz-Christian Strache dazu bringen, Vilimsky in die Schranken zu weisen. Stattdessen teilt Strache auf Facebook dessen Attacken gegen den Bundespräsidenten, die das Amt und die Demokratie beschädigen.

Die FPÖ befindet sich offenbar wieder einmal im aggressiven Wahlkampfmodus, und das ohne Rücksicht darauf, dass sie eine Regierungspartei ist, die gerade die EU-Ratspräsidentschaft zu stemmen hat.

Es mag ja sein, dass dies der blauen Anhängerschaft herzlich egal ist, doch im Sinne des Landes ist ein solches Verhalten keinesfalls. Das sollte auch die Opposition aufrütteln, die offenbar sanft entschlafen (SPÖ, Neos) oder damit beschäftigt ist, einander totzubeißen (Liste Pilz). Dass sich der Bundespräsident so deutlich einmischt, hat auch mit dem sonstigen gellenden Schweigen im Land zu tun. Und hier kommt wieder der Kanzler ins Spiel.

Aber Kurz schweigt ja auch zu den Unmutsbekundungen aus seiner eigenen Partei. Das könnte ihm noch viel mehr Ungemach einbringen. Mit wachsendem Unmut wird in den Ländern registriert, wie kompromisslos die türkise Partie in Wien den Staat umzubauen beginnt. Die selbstbewussten Wahlsieger in den Landeshauptstädten, denen ihr eigener Erfolg an der Urne viel mehr gilt als jener auf Bundesebene, werden nicht widerspruchslos zusehen, wie ihr Einfluss minimiert und ihr Rat ignoriert wird. Der Zwölfstundentag, das wissen die erfahrenen Landespolitiker, hat das Potenzial, der ÖVP das klebrige Etikett "soziale Kälte" zu verpassen – sofern die Opposition doch noch erwacht.

Kurz' türkiser Hofstaat hat in der ÖVP bereits den Ruf politischer Hochnäsigkeit. Noch schadet das dem Kanzler nicht – solange er in allen Umfragen Politliebling der Nation ist. Doch Stimmungen können schnell umschlagen. Davon kann ein anderer schweigsamer Ex-Kanzler ein Lied singen. (Petra Stuiber, 20.7.2018)