Das Wohl des Kindes hat laut Kinderrechtskonvention Vorrang, auch bei staatlichem Handeln.

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Die versuchte und inzwischen aufgeschobene Abschiebung einer armenisch-iranischen Familie aus Sulzberg in Vorarlberg wirft einige Fragen auf. Beispielsweise warum weder das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) noch die Polizei die Empfehlungen der Volksanwaltschaft, konkret ihrer Menschenrechtskommission (Nationaler Präventionsmechanismus, NPM), befolgt haben.

Die oberste Maxime bei der Abschiebung einer Familie ist das Kindeswohl, sagt die Menschenrechtskommission. "Bei der Festlegung des Zeitpunktes der Abschiebungen bzw. Rückführungen ist auf das Kindeswohl und auf die Bedürfnisse der Kinder, insbesondere von Kleinkindern, Rücksicht zu nehmen", heißt es im Bericht der Volksanwaltschaft von 2017.

Abschiebungen nachts oder frühmorgens

In Sulzberg wurde der dreijährige Anri an einem Sonntag um fünf Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. Die Wohnungstür aufgebrochen, zwölf fremde, teils uniformierte Menschen in der Wohnung, Blaulicht vor dem Haus, die Eltern verzweifelt – dieses traumatisierende Erlebnis hätte man dem Kind ersparen können.

"Psychologische Vorbereitung auf eine Abschiebung" lautet die Empfehlung der Menschenrechtskommission. Anders die Praxis: Abholungen werden nicht angemeldet und nachts oder frühmorgens durchgeführt, weil dann die Menschen zu Hause sind, begründet das Innenministerium.

Polizeiüberwachung auf Entbindungsstation

Das zweite Kind, dessen Wohl mit Füßen getreten wurde, soll in dreieinhalb Monaten auf der Welt kommen. Es musste im Bauch miterleben, wie die Mutter kollabierte, den Stress der Amtshandlung nicht ertrug. Die schwangere Frau musste ins Krankenhaus gebracht werden. Dort verbrachte Anri Stunden unter Polizeiüberwachung auf der Entbindungsstation, Mutter und Vater in Angst um ihr Baby. Dem kleinen Buben wurde ein Klima der Ungewissheit und Verzweiflung zugemutet.

Dann der Gipfel der behördlichen Missachtung von Kindeswohl: Anri wurde von der Mutter getrennt, musste mit dem Vater die lange Fahrt ins Anhaltezentrum nach Wien über sich ergehen lassen. "Wir gehen nur zusammen", wurde der Vater nicht müde zu sagen. Er blieb ungehört.

Schutz der Kinder versus Interesse des Staates

Die Empfehlung des NPM hatte anscheinend niemand gelesen: "Im Sinne des Art. 8 EMRK ist im Zweifelsfall der Schutz der Kinder und des Familienlebens vorrangig gegenüber dem Interesse des Staates, eine Familie außer Landes zu bringen."

Am Montag dann ein weiterer Schock: Dem Vater wurde im Anhaltezentrum das Handy abgenommen. Die Verbindung zur Mama im Bregenzer Krankenhaus war damit für Anri komplett abgerissen. Die lapidare Erklärung aus dem Innenministerium: "Die Mobiltelefone werden vorübergehend abgenommen, da sie sich ja zu diesem Zeitraum bereits im Stande der Festnahme befinden und um die geplante Abschiebung nicht zu gefährden. Jedoch wird den Betroffenen ein Telefonat mit Rechtsvertretern oder Angehörigen ermöglicht."

Zuckerbrot und Peitsche

Wenige Stunden später eine völlig neue Situation: Die beiden werden aus dem Anhaltezentrum entlassen. Im Innenministerium hatte man eingesehen, dass die Trennung ein Fehler war. "Die Entlassung nach Aufhebung der Schubhaft und – soweit vorgesehen – Übergabe in die Obhut einer Betreuungsorganisation soll unverzüglich erfolgen", empfiehlt die Menschenrechtskommission. Anri und sein Vater wurden schlicht auf die Straße gesetzt. Sollten schauen, wie sie nach Sulzberg kommen.

Anri, der in Vorarlberg geboren wurde, darf jetzt noch so lange in seiner Heimat bleiben, bis es seiner Mutter wieder besser geht. Dann muss die Familie nach Armenien ausreisen. Eine Schwangerschaft ist kein Hinderungsgrund, sagt das Innenministerium: "Der chefärztliche Dienst erlaubt die Abschiebung von schwangeren Frauen bis zum 7. Monat, daher sprach auch in diesem Fall – nachdem keine freiwillige Ausreise erfolgt ist – nichts gegen die zwangsweise Außerlandesbringung."

Nichts außer ein Attest des behandelnden Gynäkologen, der vor möglichen Komplikationen warnte, sollte die Frau Stresssituationen ausgesetzt werden. Das Schreiben ließ die Einsatzgruppe in der Wohnung der Familie P. liegen.

Nicht dabei gewesen

Wie geht es eigentlich Menschen, die solche Einsätze anordnen? Wie sich die Ausführenden fühlen, das war bei diesem Einsatz offensichtlich: überfordert und mies. Die Antwort eines Entscheidungsträgers auf die Frage, wie es ihm bei solchen Entscheidungen gehe, lässt nichts Gutes ahnen: "Ich bin ja bei den Einsätzen nicht dabei. Was ich mache, ist eine Managementaufgabe." (Jutta Berger, 30.10.2018)