Viele Zeitgenossen entwickelten sich in den letzten Jahren zu Experten für die trendigen Möbel der Mitte des 20. Jahrhunderts – Eames, Bertoia, Wegner, Jacobsen, Nelson, Aalto und Prouvé sind Teil ihres Bekanntenkreises. Sie wissen, dass sich Alvar Aalto mit Doppel-A schreibt, bei Eames meist Ray und Charles gemeinsam genannt werden, und sie beherrschen die Nasale bei Jean Prouvé. Ob Barcelona oder Aluminium Chair, Tulpenstuhl oder das Ei – viele sind wie gute Bekannte.

Den wenigsten fällt dabei auf, dass der Blick nur Richtung Westen und Norden geht, vielleicht noch nach Süden. Standardwerke zur Epoche zeigen keinen Entwurf aus dem Ostblock. Das Design zwischen Zweitem Weltkrieg und der Wende scheint verschluckt, verborgen hinterm Eisernen Vorhang. Bis heute.

Reeditionen aus der Manufaktur

In Berlin-Neukölln sitzt der Pole Michael Szarko (32), Seitenscheitel, perfektes Deutsch, in einem Sessel im Stil der Fünfziger. Seit Jahren in Deutschland lebend, fiel dem Eventmanager Szarko auf, dass keiner etwas mit polnischem Design anfangen kann. Dabei beginnt Polen nicht einmal achtzig Kilometer hinter Berlin. Gemeinsam mit Przybyrad Paszyn, einem Schulfreund aus Stettin, gründete er das deutsch-polnische Unternehmen Politura, eine Manufaktur für die Designklassiker ihrer Heimat. Mittlerweile fertigen sie Reeditionen in Lizenz.

Kann mit Mid-Century-Möbeln des Westens locker mithalten: der Sessel R 1378 von Janusz Rózanski.
Foto: Politura

Der entscheidende Unterschied zwischen dem Mid-Century des Westens und dem des Ostens ist die Anonymität des Designs. Selbst die beiden Polen konnten viele Möbel nicht zuordnen. Wenn überhaupt, war bekannt, welcher Betrieb ein Möbelstück produziert hatte. Nicht aber, wer es einst entwarf. Schließlich ging es weniger um den Einzelnen als um die Gemeinschaft. In der Regel gab es auch keine Modellnamen, nur Nummern und sowieso keine Marken. Die Unterlagen zu den einzelnen Möbelstücken, die weiterhelfen könnten, wurden zwar einst sorgsam aufbewahrt, doch nach der Wende vernichtet.

Sie begannen zu recherchieren, über alle Kanäle: Internet, Bekanntenkreis, Institutionen, Bibliotheken, Staatsarchive, Zeitzeugen. Man reiste durchs ganze Land, sprach mit Leuten, die etwas wussten, wiederum jemanden kannten, der etwas wusste. So lernte das Duo nach und nach die Menschen hinter den Möbeln kennen, traf Designer oder deren Familien. Während der Suche ergab sich ein neues Ziel: nicht nur die Designer ausfindig machen, sondern auch vergessene Entwürfe auf den Markt bringen.

Kein Arbeiterstuhl

"Mit dem Stuhl von Professor Homa fing eigentlich alles an", erinnert sich Michael Szarko. Elegant, mit schmaler, hoher Lehne, fast antilopenhaft. Es gab ihn nur als Prototyp, der die meiste Zeit mit einem "Nicht zugelassen"-Stempel versehen im Lager einer Möbelfabrik stand. Denn es durfte in der Volksrepublik nur produziert werden, was eine zentrale Kommission der Möbelindustrie abgenickt hatte.

Das Gremium aus Fachleuten und Parteimitgliedern befand, dieser Stuhl sei zu ausgefallen für die sozialistische Gesellschaft. Zu fein: kein Arbeiterstuhl. Zu kompliziert: nicht billig produzierbar. An ein Argument erinnerte sich Edmund Homa besonders gut: Sitzt ein Offizier auf diesem Stuhl, könnten beim Aufstehen seine Knöpfe an den Streben der Rückenlehne hängen bleiben. Michael Szarko und Przybyrad Paszyn scherten sich nicht um Offiziersjackenknöpfe. So wurde der vergessene Stuhl mit der Nummer H106 fast fünfzig Jahre später zum ersten Mal produziert und prompt für den German Design Award 2017 nominiert.

Antilopenhaft elegant, doch einst zu ausgefallen für die sozialistische Gesellschaft: der Sessel H106 von Edmund Homa.
Foto: Politura

Fast kein polnischer Designer hatte Zeichnungen seiner Entwürfe zu Hause, Prototypen sowieso nicht. Es gehörte ja alles dem Staat. Vieles ist daher heute verloren, denn nach der Wende wurden die zentrale Kommission der Möbelindustrie und viele Möbelfabriken geschlossen und die Archive und Lager geleert. Der Designer Janusz Rózanski hatte zum Glück aus Materialmangel Kopien seiner Zeichnungen benutzt, um den Fußboden zu unterlegen. Seine Familie fand sie einige Jahrzehnte später nach einem Wasserrohrbruch. So ging bei Politura unter anderem ein Couchtisch von ihm in Serie, der in Zeiten des Kommunismus nie produziert wurde, 2016 aber sogar einen Designpreis in Polen bekam.

"Während dieser Suche haben wir viel über das System gelernt", sagt Michal Szarko. "Warum Dinge nicht in Serie gegangen sind. Warum nicht so viel entstanden ist. Warum wir massenweise gleiche oder ähnliche Möbelstücke haben." Die Möbelfabriken hatten eigene Designabteilungen, die laufend Entwürfe produzierten. Schon allein, um ihr Soll zu erfüllen. "Sie mussten zeichnen, zeichnen, zeichnen, egal ob es umgesetzt wurde."

Prototypen

Einige Ideen wurden mit den Technikern besprochen, der Leitung vorgestellt und schließlich als Prototypen der Kommission der Vereinigung der Möbelindustrie vorgestellt. Dort saßen Fachleute, aber auch Vertreter der Partei, und die entschieden, ob und wo die Möbel produziert werden durften. Selbst das hieß noch nicht, dass sie auf den Markt kamen, denn auf Messen wählten die Vertreter der zentralen Einkaufskommission zweimal im Jahr aus, was sie in den staatlichen Möbelhäusern sehen wollten. Und folgten darin nicht nur ihrem Geschmack, sondern auch den von der Partei beschlossenen Plänen. Denn was das Land für seine Wohn- und Schlafzimmer brauchte, glaubte man ganz oben am besten zu wissen.

Von erfrischend frecher Eleganz zeugt der Sessel Lotos von Romuald Ferens.
Foto: Politura

Nach der Wende wollten viele Menschen in Polen ihre Möbel schnell loswerden. Zu stark erinnerten sie sie an Kommunismus, Mangelwirtschaft, das Schlechte. Viele Mid-Century-Originale des Ostens wanderten daher auf den Müll. "Doch das Bewahrenwollen kommt immer mehr", beobachtet Michal Szarko. Dass ihre Modelle trotzdem eher von Deutschen als von Polen gekauft werden, mag auch an den Preisen zwischen 300 und 3000 Euro liegen.

Entwickelt wird in der Manufaktur in Posen, produziert bei Handwerkern der Gegend, alles in kleinen Stückzahlen. Fünf Redesigns polnischer Klassiker oder solcher, die es hätten werden können, bietet Politura inzwischen an. Weitere sollen folgen. Denn polnisches Mid-Century-Design kann man eben nicht vergessen. (Anja Martin, RONDO, 25.12.2018)