Kurz' Blößen entspringen weniger seiner Person als der Schwäche seiner ursprünglichen Organisation.

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Mark Zuckerberg ist der Prototyp eines juvenilen Überfliegers von mangelnder geistiger Grundfestigung.

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Zwischen Heldenverehrung und Dämonenverdammung entzieht sich Sebastian Kurz weitgehend einem kleinsten gemeinsamen Nenner von Anhängern und Kritikern. Denn trotz ihrer Ächtung des politischen Prinzips der Polarisierung vollziehen auch Medien zuhauf dieses Konzept der gesellschaftlichen Teilung.

Um sich dem Phänomen des 32-Jährigen anzunähern, erscheint aber eine Einigung darauf sinnvoll, dass er zumindest überaus fähig zur Massenkommunikation ist – ungeachtet des dazu paradox wirkenden "Schweigekanzler" als Wort des Jahres.

Diktat des Mittelmaßes

Wenn jede weitere Einschätzung eine Frage der Perspektive bleiben soll, verblüfft umso mehr die mangelnde Vielfalt der Blickwinkel. Während die Ikonisierung zum Ausnahmetalent der inhaltlichen Überprüfung nicht standhält, verzichtet die Infragestellung seiner Einmaligkeit auf eine grundlegende systemkritische Analyse. Die Hypothese dazu lautet: Kurz ist vor allem das Produkt versagender Parteistrukturen. Erst die Verknöcherung der Karrierekriterien der ÖVP hat ihn ermöglicht.

Eine solche Grundannahme birgt den morbiden Charme der Nachvollziehbarkeit für andere scheinbare Bewegungen aus und in den vorgeblichen Gesinnungsgemeinschaften. Je älter und gesellschaftlich umfassender konstituiert sie sind, desto weniger Spielraum bietet sich dort den Hochbegabten für das politische Geschäft. Das Diktat des Mittelmaßes rupft den Paradiesvögeln oft schon die Federn, noch bevor sie flügge sind. Das gilt für alle Möchtegern-Volksparteien – nicht nur für die sogenannte, sondern insbesondere für die SPÖ.

Ausnahmen bestätigen auch links und rechts davon lediglich die Regel. Dass in Österreich ein Jörg Haider emporkommen konnte, wirkt so wenig als Indiz für blaue Führungsorientierung, wie in Deutschland der Aufstieg von Robert Habeck ein Argument für grüne Basisdemokratie ist. Charismatiker sind zwar überall, aber nur trotz allem möglich.

Faszinierende Gegensätze

Die Faszination Kurz, der sie von "Newsweek" bis "Time" und von "Bild" bis "Spiegel" im positiven wie im negativen Sinn erliegen, ist nicht in erster Linie das politische Talent. Es sind vor allem gepaarte Gegensätze von Jugendfrische und Altklugheit, Wohlerzogenheit und Killerinstinkt, Werteverkündung und Skrupellosigkeit. Darüber verfügen auch andere volksvertretende High Potentials. Aber sie werden nicht so jung Kanzler. Weil funktionierende Parteien das verhindern. Und dafür gibt es ein besseres, aktuelleres Argument als die Vorstellung, Josef Cap hätte 1983 Bruno Kreisky als Kanzler abgelöst.

Juvenile Überflieger

Facebook-Chef Mark Zuckerberg (34) ist der Prototyp eines juvenilen Überfliegers von mangelnder geistiger Grundfestigung. Politik mag zwar anders formen als die disruptive digitale Start-up-Wirtschaft, doch auch Kurz steht für das Manko der allzu früh viel zu schnell Aufgestiegenen: Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Den Galionsfiguren von aktuell gleich viel Aktienmarktwert wie Bruttoinlandsprodukt – 370 Milliarden Euro für Facebook und Österreich – fehlt Lebenserfahrung, um dieser Verantwortung zu genügen. Sie funktionieren perfekt für Schemata statt für Prinzipien einer Welt, die sie mitgeschaffen haben, ohne den Faktor Gemeinwohl ausreichend zu bedenken. Die ökonomisch bewährten, aber politisch nicht einmal bemühten Vorstellungen von Zuckerberg in seinen Anhörungen vor US-Senat und EU-Parlament bestätigen das ebenso wie die national erfolgreichen, aber global bedenklichen Anbiederungen von Kurz gegenüber dem Koalitionspartner und der Visegrád-Gruppe.

Die Position Kanzler verdankt er neben seiner Kommunikations- und Managementfähigkeit vor allem Eigenschaften wie Beharrlichkeit, Konsequenz und Disziplin. Die Redefähigkeit dem Nichtssagenden oder gar Schweigen unterzuordnen, verrät zudem ein gerüttelt Maß an situativer Uneitelkeit – der wahrscheinlich stärksten Waffe gegen anders gepolte Kritiker.

Kurz' Blößen entspringen weniger seiner Person als der Schwäche seiner ursprünglichen Organisation. Die alte ÖVP hat es ihm viel zu leicht gemacht – mit ihrer seit Gründung der Grünen viele Jahre qualitativ darbenden Jungen ÖVP.

Bevor er von dort geradezu als türkiser Messias aufgestiegen ist, war er die geradezu skurrile letzte Hoffnung der schwächsten schwarzen Landesorganisation. Nach der inhaltlichen Frontalkollision seines Geilomobils in Wien hatten aber viele Granden aus der Partei der Wirtschaft, Bauern und Beamten, in der die Jungen von der Schülerunion bis zur JVP immer eine ähnliche Feigenblattrolle hatten wie die Frauenorganisation, schon nicht mehr so genau auf ihn geschaut. Heute regiert der kleine türkise Boys-und-Girls-Club von Kurz die große schwarze ÖVP. Er überwiegt zwar nicht im öffentlichen politischen Diskurs, aber er prägt ihre Wählbarkeit in Österreich.

Innerparteiliche Schwäche

Insgesamt erlaubt das die Schlussfolgerungen:
1.) Jene innerparteiliche Schwäche, die den Kanzler ermöglicht hat, teilen seine Gegner mit der ÖVP.
2.) Mit betont ethischer Argumentation ist seiner kalkuliert strategischen Kommunikation kaum beizukommen. 3.) Ausgerechnet Kurz als personelles Produkt parteilicher Schwäche bremst infolge Erzeugung falscher Selbstsicherheit jede Reform.

Hätte er 15 Lebensjahre später die Wahl gewonnen, wäre Sebastian Kurz wohl ein besserer Kanzler. Bis zu diesem fiktiven Starttermin hätte ihn die ÖVP aber längst verbraucht gehabt. Eine Partei, die ihn ernsthaft herausfordern will, muss eher ihre Karrieresysteme ändern, anstatt nach einem eigenen Guru zu suchen. (Peter Plaikner, 14.12.2018)