Noch geht es bei Pro- oder Anti-Brexit-Demonstrationen friedlich zu. Für den Fall eines britischen EU-Austritts ohne Vertrag drohen zumindest in Nordirland Unruhen – die Polizei bereitet sich darauf vor.

Foto: APA/AFP/ADRIAN DENNIS

Unter Warnrufen von Industrie, Landwirtschaft und Technik, hingegen angefeuert von konservativen Hardlinern steuert Großbritannien mit Vollgas auf einen Brexit ohne Austrittsvertrag zu. Premierministerin Theresa May will die politische Blockade mit einer Werbekampagne für ihren mit Brüssel ausgehandelten Deal überwinden. Die Überzeugungsarbeit muss vor allem Parteifreunden gelten: Diese wollen Ende März mehrheitlich ohne Vereinbarung (No Deal) aus der EU austreten.

Die Regierungschefin will übers Wochenende Telefonate mit EU-Partnern führen, um für ihr Paket noch "Klarstellungen" zu bekommen. Unterdessen sprach Irlands Premier Leo Varadkar mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel über negative Folgen eines No-Deal-Brexits für die Grüne Insel.

"Es geht um richtig viel Geld"

Landwirtschaftsminister Michael Creed zufolge wünscht sich Irland EU-Agrarsubventionen im Wert von hunderten Millionen Euro: "Bei Rinderzüchtern und Fischern geht es um richtig viel Geld." Ein Großteil der irischen Agrarexporte, etwa Milch und Käse, geht auf die Nachbarinsel.

Wie sich der Chaos-Brexit auf britische Bauern und Viehzüchter auswirken würde, schilderte der zuständige Ressortchef Michael Gove in düsteren Farben. Der einstige Brexit-Vorkämpfer sprach von "erheblichen Turbulenzen" durch die dann notwendigen Exportabgaben und zusätzlichen Kontrollen: "Das ist ein unausweichlicher Fakt." Unter den Regeln der Welthandelsorganisation WTO werde Großbritannien 40 Prozent Zoll auf Rind- und Lammfleischexporte in die EU entrichten müssen.

Auch die Branchenlobby NFU warnt vor "katastrophalen" Folgen: 90 Prozent der auf der Insel verwendeten Impfstoffe und Medikamente für die Massentierhaltung sowie Kunstdünger stammen aus der EU, ihr Preis würde in die Höhe schnellen. "Wir selbst stellen diese Produkte gar nicht mehr her", berichtet NFU-Chefin Minette Batters.

Goves Rede mündete in einem Appell an seine konservativen Fraktionskollegen: Diese sollten dem Deal zustimmen. Darauf deutet aber wenig hin. Vergangenen Monat hatte die Regierung die Debatte über den Vertrag kurzfristig abgebrochen; bei der jetzt für Mitte Jänner geplanten Abstimmung (ein genaues Datum gibt es noch immer nicht) droht May erneut eine heftige Niederlage.

Zumal das Parteivolk den Brexit-Hardlinern im Unterhaus den Rücken stärkt: Einer Yougov-Umfrage zufolge unterstützen nur 38 Prozent der Tory-Mitglieder Mays Politik, 59 Prozent wollen keinen Deal. Bei einer neuerlichen Volksbefragung würden bis zu 64 Prozent für den Austritt ohne Vereinbarung stimmen. "Die Mitglieder scheinen wenig kompromissbereit", kommentiert Professor Tim Bale von der Londoner Queen-Mary-Universität das Ergebnis der von ihm in Auftrag gegebenen Umfrage.

Düsteres Szenario auf Unis

Die sinkende Zahl von Postgraduierten aus der EU nehmen Sprecher des Unisektors erneut zum Anlass, eindringlich vor dem No Deal zu warnen. Zwei Jahre in Folge haben sich jeweils neun Prozent weniger Jungwissenschafter für Forschungsprojekte an britischen Unis eingeschrieben. Dabei spiele "die Unsicherheit über Forschungsgelder" eine Rolle, glaubt Professor Nancy Rothwell von der Uni Manchester. Gemeinsam mit den Leitern von 150 anderen Universitäten warnt Rothwell vor einem "akademischen, kulturellen und wissenschaftlichen Rückschritt, von dem wir uns erst in Jahrzehnten erholen" würden.

Der Regierung sind solche Warnrufe recht. Gleichzeitig geben die Ministerien Millionensummen für die Folgen des möglichen No-Deal-Brexits aus. So hat das Verkehrsressort der Reederei Seaborne Freight 15,3 Millionen Euro für eine Fährverbindung zwischen Ramsgate und dem belgischen Ostende in Aussicht gestellt. Bisher verfügt die Firma nicht einmal über Schiffe und hat auch noch nie welche besessen. Und der Hafen von Ramsgate, in dem der Fährbetrieb 2013 eingestellt wurde, muss erst wieder ausgebaggert werden – mit Staatsgeldern.

In Erwartung massiver Unruhen in Nordirland im Fall eines vertragslosen EU-Austritts werden zurzeit tausend englische und schottische Polizisten für Kriseneinsätze ausgebildet.(Sebastian Borger aus London, 5.1.2019)