Kurz knistert es, wenn die Nadel ins Vinyl taucht, dann setzt die Wirkung ein.

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Man kennt das von diesen Selbsthilfegruppen, wie sie in Filmen gerne gezeigt werden. Einer steht auf, redet über sein Problem, oft ist es eine Abhängigkeit, und setzt sich wieder. Die anderen hören und sprechen ihm Mut zu, bedanken sich, dass er seine Geschichte mit ihnen geteilt hat.

Das möchte ich auch machen – obwohl ich gar kein Problem habe. Im Gegenteil: Ich hänge an der Nadel, und es ist geil. Wie ein Junkie brauche ich immer wieder neuen Stoff. Den besorge ich mir, wo ich ihn kriegen kann. Oft reicht der alte, denn mein Stoff verbraucht sich nicht so rasch.

Behandelt man ihn pfleglich, hält er ewig. Es sind Schallplatten, und meine Nadel ist die, die der Tonarm mit einem leisen Knistern im Vinyl versenkt. Dann schießt die Wirkung ein.

Über die längste Zeit des vergangenen Jahrhunderts wäre das keine Zeile wert gewesen. Es war normal, dass man sich eine Schallplatte kaufte, wenn man Musik intensiver als bloß via Radio hörte. Das gängige Format war das Album, der Longplayer, die LP. So ein Ding misst im Durchmesser rund 30 Zentimeter und ist beidseitig abspielbar. Davon habe ich reichlich. Stückzahl? Keine Ahnung, ich messe nur noch in Metern.

Konstruierte Musik

Musikkonsumation via Streamingdienst benötigt das Format Album nun nicht mehr, Streaming privilegiert einzelne Songs. Diese werden in Playlists zusammengefasst oder von einem Algorithmus bereitgestellt, von DJ Blechtrottel. Dementsprechend wird kommerzielle Popmusik mittlerweile so konstruiert, dass sie den Hörer nach wenigen Sekunden an der Angel hat. Konstruktion statt Komposition. Klingt geil, oder?

Das Album spielt da keine Rolle mehr. Mitte Jänner war der New Yorker Rapper A Boogie wit da Hoodie die Nummer eins der US-Billboard-Charts. 83 Millionen Streams brachten ihn dorthin. Und 823 physische Tonträger. Mehr hat er nicht verkauft. Das ist im Verhältnis zur Onlineernte nicht einmal im Promillebereich angesiedelt.

Seltsam ist es auch bei den Grammys. Die Musikpreise der Musikindustrie werden heuer am 11. Februar vergeben. Lange wurden diese anhand der Verkaufserfolge traditioneller Formate gemessen, mittlerweile muss ein Act wie Cardi B schon ein paar Fantastilliarden Streams aufweisen, damit sich ihre Plattenfirma dazu herablässt, das Album, um Monate verzögert, auch als Tonträger auszuliefern. Immer mehr der Nominierten sind Künstler des Streamingmarkts.

Digitale Jukebox

Als der Hip-Hop-Superstar Drake im Vorjahr sein Album "Scorpion" veröffentlichte, suchte man es vergeblich in den Läden. Die "New York Times" schrieb sogar eine Geschichte darüber, dass das neue Werk des global die Charts stürmenden Musikers in New York kaum zu kriegen war. Drakes Zielgruppe ging das zu geschätzten 95 Prozent an der Festplatte vorbei.

Streaming hat etwas von einer digitalen Jukebox, ist also eigentlich ein alter Hut, nur der Aufwand hat stark abgenommen. Anstatt Einzeltitel zu wählen, sorgen Streaminganbieter für den Mix. Das kann man mögen. Bei mir zu Hause schleicht sich über einen Hintereingang ein Bluetooth-Kastl in den Verstärker. Über den hört sich meine Frau Playlists an. Die bestehen meist aus Songs, die ich auf Platte habe. Na ja. Das bringt mich dann oft dazu, zum Ausgangspunkt so eines Lieds zu dackeln – dem Album -, in einer Mischung aus Wehmut und Genugtuung.

Dynamik und Narrativ

Das Format des Albums prägte Generationen. Im Schnitt bietet ein solches zwischen 30 und 40 Minuten Musik. Es veranlasste Künstler und Produzenten dazu, sich eine Chronologie dafür auszudenken. In welcher Abfolge sollten die Songs darauf Platz finden? Mit welchem endet eine Seite, mit welchem geht es nach der Wende weiter? Plattenumdrehen ist für Streamer natürlich ein Augenroller.

Für Albenhörer ist es eine routinierte Zuwendung an einen Freudenspender. Denn auch aus der Chronologie entwickelt ein Album seine Dynamik, ein Narrativ, das am Ende ein kleines Gesamtkunstwerk ergibt. Oder auch nicht. Das Format allein ist natürlich kein Garant für Qualität, es wurde und wird jede Menge Mist in Vinyl gepresst – aber was Mist ist, ist Geschmacksache.

Als Mitte der 1980er die vermeintlich pflegeleichte und rauschfreie Compact Disc auf dem Markt kam, wurde der Tod der Schallplatte prognostiziert. Die Musikindustrie frohlockte, konnte sie doch ihren Katalog in einem neuen Medium noch einmal verkaufen – um den doppelten Preis. Damals war es unter anderem die DJ-Kultur, die Schallplatten am Leben erhalten hatte. Und ich natürlich. Ich hab nie aufgehört, Vinyl zu kaufen.

Vinyl erzählt eine Geschichte

Was beim Streaming auf der Strecke bleibt, ist der Input, den ein physischer Tonträger haben kann. Und sei es nur eine auf Kassette überspielte Platte. Tonträger hinterlassen kleine Kerben in einer Biografie. Ein Blick aufs Plattenregal: Da schaut das erste The-Smiths-Album raus, das ich vom Regen durchnässt beim Hannibal in Graz gekauft habe.

Dort stehen ein paar Al-Green-Platten. Die hab ich in einer schiefen Ramschbude in Memphis gekauft, der Verkäufer hatte extreme O-Beine. Oder da unten sehe ich die drei Rücken von Neil Youngs "On the Beach". Zwei sind noch eingeschweißt, ich habe sie 1992 um je einen Dollar aus der Mistkiste eines Plattenladens in Flagstaff in Arizona gefischt -- und drei Minuten später bin ich in jemanden aus Wien hineingelaufen. (Hallo, Friedrich!)

An Alben hängen Geschichten, Gerüche, Orte und Menschen. Mit einem Punk-Album unterm Arm durch die Kleinstadt zu gehen konnte einem Probleme einbringen oder neue Freunde. Eine Playlist im Kopfhörer des Smartphones kommt da nicht mit. Distinktionsgewinn? Null. Nur ein weiterer Smombie, der aufs Handy schaut, statt auf den Weg.

Plattenspieler für die Kids

Dabei muss man sich heute nicht komisch fühlen, wenn man Alben hört. Zwar stagniert der Vinylboom der letzten Jahre langsam. Doch gibt es immer noch Indizien, die ihm ein langes Leben versprechen: Der heimische Plattenbauer Pro-Ject ist weltweit Marktführer und verkauft seine Geräte wie geschnittenes Brot. In der Steiermark haben drei Musikliebhaber erst 2017 ein Vinylpresswerk eröffnet: Austrovinyl. Die drei produzieren mittlerweile in Vollauslastung. Und entgegen landläufiger Vorurteile, das sei ein Freakspaß, wünschen sich viele junge Menschen zu diversen Anlässen Plattenspieler – trotz des Handys als neues Körperteil.

Solange Schallplatten gekauft werden, bleibt das Album erhalten. Das Angebot ist ja auch immens. In den Plattenläden und auf Handelsplätzen wie Ebay oder Discogs. Da gibt es fast alle Tonträger zu kaufen, die je produziert wurden. Mitunter kippt die Neigung dort ins Absurde. Zuletzt wurde auf Discogs für eine Platte der Sex Pistols 15.822 Dollar bezahlt. Für eine Single. Spielzeit drei Minuten, 20 Sekunden. Einerseits: Oida! Andererseits find ich es gut. Es zeigt mir, wie normal ich noch bin. (Karl Fluch, 2.2.2019)