Großtanten mit einem Radstand wie Steyr-Traktoren erzählten ausführlich von den letzten Kriegstagen...

Foto: Elmar Gulisch

Auch in den fortschrittlichen Zeiten der Ära Kreisky ließ man sich die Freude am Zusammenhalt von Großfamilien kein bisschen trüben. Dumm nur, dass einem das moderne Großstadtleben die Wurzeln der eigenen, mehr ländlichen Herkunft die meiste Zeit über vorenthielt.

Nichts Freudvolleres, zugleich Geselligeres daher als eines der zahlreichen Begräbnisse, mit denen die Sippe im Wiener Umland Zusammenhalt demonstrierte. Die beträchtliche Lücke, die jeder Verschiedene – schon allein wegen seines Körperumfangs – hinterlassen hatte, wurde verlässlich mit Neuankömmlingen geschlossen.

Die Liberalisierung des Scheidungsrechtes tat ein Übriges: Man lernte frische Onkel in schlecht sitzenden Anzügen kennen. Ihre Familientauglichkeit stellten diese erotisch regsamen Vertreter der Spezies "Diplom-Ingenieur" unter Beweis, indem sie ausgerechnet mich, den dicken Babyboomer, augenzwinkernd zu ihrem Verbündeten erkoren.

Literweise Coca Cola

Sie lobten dann vor meinen Tanten ostentativ meine Klugheit – und spendierten mir literweise Coca Cola. Ich begrüßte im Stillen die Flatterhaftigkeit der weiblichen Verwandtschaft. Vom Prinzip der Ehehygiene besaß ich nur einen vorläufigen Begriff.

Erst zu fortgeschrittener Stunde entfaltete ein solcher Leichenschmaus seine ganze aufklärerische Macht. Großtanten mit einem Radstand wie Steyr-Traktoren erzählten von ihren "in den letzten Kriegstagen" gefallenen Brüdern. Steif, vom Krieg versehrt, war der Arm des Zweitjüngsten gewesen. Und doch hätten die Augen des Landwirts vor Fanatismus gefunkelt. Seine Spur verlor sich im letzten Aufgebot des sogenannten Volkssturms.

Das Schicksal des jüngsten, eines kindernärrischen Geistesschwachen ("Toni-Onkel"), wurde seltener erwähnt. Dessen Spezialität soll das "Spanl-Machen" gewesen sein: Er riss Zeitungsseiten sorgfältig in Streifen. Als ihn die Nazis abholten, schämten sich die familieneigenen Parteimitglieder seiner. Sie befürworteten pflichtgemäß seine Überstellung in eine großdeutsche Pflegeeinrichtung. Fortan blieb der Toni-Onkel im Hause unerwähnt. Das Schweigen währte bis zum Schluss. (Ronald Pohl, 27.2.2019)