"Die Dinge, die wir selbst nicht verstehen, sind am schwierigsten zu erzählen." Elena Ferrante, Bestsellerautorin

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"Immer steht das eigene Leben, stehen die eigenen Wünsche zur Disposition." Andrea Heinz

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Wie gemein so ein kleiner Handgriff sein kann: Eine Frau um die fünfzig nimmt einem Kind die heißgeliebte Puppe weg. Das ist der böse Kern von Elena Ferrantes nicht einmal 200 Seiten umfassendem Roman Frau im Dunkeln, der im Original unter dem Titel La figlia oscura 2006 erschien. Bereits 2007 kam eine deutsche Übersetzung von Anja Nattefort, Die Frau im Dunkeln (DVA), heraus. Seit dem enormen Hype um Ferrantes Neapel-Tetralogie, den Suhrkamp unter dem Schlagwort #FerranteFever und mit einer eigenen Homepage noch zu befeuern suchte, bringt der Verlag nun ältere und allesamt bereits auf Deutsch vorliegende Werke der Autorin neu heraus.

2018 war das ihr Debüt Lästige Liebe, das bereits seit 1994 auf Deutsch vorliegt, 2019 ist es Frau im Dunkeln, erneut in der Übersetzung von Anja Nattefort. Und Anfang April wird noch einmal nachgelegt mit Ferrantes jüngstem Werk Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben.

Frau im Dunkeln nun erzählt in sehr dichter Form, rund um den Kristallisationspunkt des Puppendiebstahls, von der fast fünfzigjährigen Anglistik-Professorin Leda, die während des Sommerurlaubs am Strand von Süditalien von den Entscheidungen und Irrwegen ihres Lebens eingeholt wird. Auslöser ist eine lärmende neapolitanische Großfamilie, die die ebenfalls aus Neapel stammende Leda an den Ort ihres Aufwachsens zurückkatapultiert: "Heute empfand ich sie nicht wie ein Schauspiel, das ich melancholisch den Erinnerungen an meine Kindheit in Neapel gegenüberstellte; sie waren meine Gegenwart, der Sumpf meines Lebens, in dem ich gelegentlich noch versank."

Man begegnet in dem Roman zahlreichen Motiven aus der Neapel-Tetralogie wieder, in ihm scheint alles schon angelegt: Da ist Ledas Versuch, sich von Neapel und der Familie zu distanzieren, ihre beiden Töchter von diesem "Sumpf" fernzuhalten. Die akademische Karriere, der Wechsel vom Dialekt in die Hochsprache, "das klare Italienisch, die gelehrte Schöngeistigkeit."

Auch in der Tetralogie ist die ambivalente Beziehung zwischen Mutter und Tochter ein Thema, hier liegt der Fokus nun mit weit mehr Gewicht auf der Mutterschaft: Erschreckend hart urteilt Leda bisweilen über ihre Töchter, während sie fasziniert und idealisierend eine junge Frau und deren kleine Tochter beobachtet, die zur neapolitanischen Großfamilie gehören. Diesem Mädchen (das Elena heißt, wie die Erzählerin der Neapel-Tetralogie) nimmt sie, ohne es selbst ganz zu verstehen, die Puppe weg und gibt sie ihm auch nicht zurück, als das Mädchen tagelang untröstlich bleibt. Sie erzählt den Frauen der Familie, dass sie selbst ihre kleinen Töchter einst verlassen hat, sie zurückließ, um mit einem neuen Mann zu leben.

Tabuthema Mutterschaft

Alles läuft letztlich auf die Frage hinaus, wie weit man in das Leben eines anderen Menschen (eines Kindes) eingreifen darf – und wie weit man es selbst ertragen kann, dass dieser Mensch in das eigene Leben eingreift, ja eingreifen muss. Ferrante ist eine Meisterin darin, widersprüchliche, schwer zu fassende Emotionen greifbar zu machen, gerade was so tabuisierte und ideologisch überfrachtete Themen wie Mutterschaft angeht.

Natürlich lieben diese Mütter ihre Kinder. Aber es ist nicht das Ideal der bedingungslosen Selbstaufgabe, sondern eine intensive, schmerzhafte Liebe, die die Frauen bisweilen selbst zu zerreißen scheint. Denn immer steht auch das eigene Leben, stehen ihre eigenen Wünsche und Träume zur Disposition.

Nina, die junge Mutter Elenas, ist fasziniert von Ledas Geschichte, gerade weil auch sie selbst mit ihren Sehnsüchten, ihrem Begehren abseits der Mutterschaft zu kämpfen hat. Ob es jemals vorbeigehen würde, dieses "Chaos in mir", fragt sie die Ältere fast flehentlich. "Heute kann man auch gut damit leben, wenn es nicht vorbeigeht", ist die Antwort.

Vieles, was die neapolitanische Reihe so unwiderstehlich gemacht hat, das schillernde Figurenensemble, der üppige zeitgeschichtliche Rahmen, fehlt hier. Das gerät dem kurzen Roman jedoch nicht zum Nachteil, auch er erzeugt nach wenigen Seiten eine Sogwirkung. Ferrante weiß, wie man Spannung aufbaut, das hat sie mit diesem Roman schon lange vor ihrem großen Erfolg gezeigt.

Und sie ist vor allen Dingen eine genaue, kundige Beobachterin der menschlichen Psyche mit all ihren Abgründen und Irrationalitäten. Am Ende gibt sie vielleicht sogar eine leise, kluge Antwort auf die Frage danach, wo denn die Grenze zwischen Ich und Du zu ziehen wäre. Am Telefon sagt Leda leise zu ihren Töchtern: "Ich bin tot, aber es geht mir gut." (Andrea Heinz, Album, 5.3.2019)