Arbeitslose, die sich nur einen Stempel holen und den Job gar nicht wollen? Solche Gschichtln sind weitverbreitet – sie stempeln arbeitslose Menschen ab.

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Die Politik fordert eine härtere Gangart gegenüber Arbeitslosen, deren Perspektive wird im Diskurs ausgeklammert. Für die Soziologin Carina Altreiter entwächst die Bedrohung für den Sozialstaat nicht von den vermeintlichen Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrern. Es ist der aktuelle politische Diskurs, der Entsolidarisierung befördert, erläutert sie im Gastkommentar.

Seit der Nationalratswahl 2017 bin ich viel in Österreich herumgekommen. Für meine Forschung habe ich mit verschiedenen Menschen Gespräche geführt, und auch im Alltag behält man als Soziologin immer einen aufmerksamen Blick dafür, was die Leute erzählen. Wenn es um Arbeitslosigkeit, Arbeitslose und das Arbeitsmarktservice AMS geht, hat jeder mindestens ein oder zwei Gschichtln parat, die er entweder selbst erlebt hat oder secondhand weiß, weil es der Freundin einer Bekannten des Nachbarn passiert ist:

Die Arbeitslosen, die sich nur den Stempel holen kommen, den Job aber nicht wollen. Die Langzeitarbeitslosen, denen Unternehmer eine Chance geben wollen, sie bei der Einstellung bevorzugen und dann nach wenigen Wochen feststellen müssen, dass die betreffende Person im Krankenstand ist und nie wieder auftaucht. Die Menschen aus dem Ausland, die nur zu uns kommen, um Mindestsicherung zu kassieren, daheim sitzen und sich darüber freuen, wie einfach man in Österreich gut leben kann, ohne etwas dafür tun zu müssen.

Heftige Emotionen

Diese Berichte sind in der Regel von heftigen Emotionen begleitet. Und das zu Recht: Sie verletzen nämlich eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung. Man fühlt sich unfair behandelt, wenn man selbst jeden Tag aufsteht, in die Arbeit geht, sich nicht beklagt und fleißig seinen Job erledigt. Die Arbeitslosen hingegen, so der Eindruck, machen sich auf Kosten der "braven Steuerzahler" einen schönen Tag. Es kann ja nicht sein, dass der, der arbeitet, der "Dumme" ist, so Kanzler Sebastian Kurz im November in der "ZiB 2". Das sagt einem schon der Hausverstand.

Mit dem Hausverstand ist es aber so eine Sache. Seine Plausibilität bezieht er aus der Alltagslogik, und die ist eben davon geprägt, was in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als legitim gilt. Und das wird medial und politisch hergestellt. So haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, Arbeitslosigkeit automatisch mit Unwilligkeit in Verbindung zu bringen. Die Ursachen für Arbeitslosigkeit werden im Individuum verankert ("die wollen sich nicht anstrengen") und nicht mehr am Arbeitsmarkt oder am Wirtschaftssystem festgemacht.

Die andere Seite der Medaille

Wenn Arbeitslosigkeit als Folge fehlender Anreize inszeniert wird, dann legt der Hausverstand nahe, dass man die Menschen über eine "Arbeitspflicht" (Beate Hartinger-Klein, Kronen Zeitung, 19. 3. 2019) und "strengere Jobvermittlung" (Sebastian Kurz, DER STANDARD) dazu zwingen muss, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

Was in dieser Hausverstandslogik – die die aktuelle Regierung schamlos bedient – ausgeblendet wird, ist die andere Seite der Medaille: die Sichtweise derjenigen, die schon Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit oder der Mindestsicherung gemacht haben.

Auch davon haben die Leute in den Gesprächen erzählt. Wie verletzend es ist, wenn man vom eigenen Umfeld als faul und unwillig abgestempelt wird, obwohl man händeringend eine Arbeit sucht, aber aufgrund der Arbeitsmarktlage einfach keinen Job findet. Wie sehr man an sich selbst zweifelt, wenn man Bewerbung um Bewerbung schreibt, und immer eine Absage kommt. Wie beschämend es ist, wenn man auf die Hilfe anderer angewiesen ist, weil das in unserer Gesellschaft nur noch als Tachinierertum gilt. Wenn die Anerkennung ausbleibt, weil nur noch das, was man am Arbeitsmarkt leistet, überhaupt als Leistung zählt. Wenn einen die Scham und die finanziellen Probleme in die soziale Isolation treiben. Und wie erniedrigend es ist, wenn man arbeiten geht, aber trotzdem nicht von seinem Einkommen leben kann.

Gefahr der Entsolidarisierung

Die Gefahr für den Sozialstaat geht nicht von dem kleinen Prozentsatz in der Gesellschaft aus, der sich nicht kooperativ verhält. Das hält ein Sozialsystem bis zu einem gewissen Grad aus. Gefährlich ist vielmehr, dass durch den aktuellen Diskurs bewusst der Eindruck erweckt wird, das Sozialsystem könne sich vor lauter Betrügern nicht erwehren und müsse durch Kürzungen und schärfere Kontrollen beschützt werden. Das begünstigt eine wachsende Entsolidarisierung, die für die gesamte Gesellschaft von Nachteil ist.

Die eigene Beteiligung an der Gesellschaft hängt nämlich auch davon ab, wie das Verhalten anderer Menschen in der Gemeinschaft eingeschätzt wird. Studien zeigen, dass Menschen ihr eigenes solidarisches Verhalten infrage zu stellen beginnen, wenn sie das Gefühl bekommen, alle anderen wären "faul", würden den Sozialstaat ausnützen und hätten es dabei auch noch schöner als sie selbst.

Der aktuelle Diskurs über Arbeitslose und Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe erhöht damit auch die Barriere dafür, Hilfe überhaupt in Anspruch zu nehmen, wenn man sie braucht. Schließlich will man ja selbst nicht mit diesen Bildern in Verbindung gebracht werden. Schon jetzt verzichten viele Menschen auf dringend benötigte Unterstützung, weil sie sich schämen oder Angst vor Stigmatisierung haben. Der langfristige Schaden für die Gesellschaft ist vorprogrammiert. (Carina Altreiter, 3.4.2019)