Die Wahlplakate zur Europawahl Ende Mai verheißen ein Tohuwabohu von rechts und links.

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Die klarsten Gedanken, die Europas politische Zukunft betreffen, fasst man am besten in der Ewigen Stadt, bevorzugt bei Rotwein und Pasta. Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese gründeten 2006, beide gerade einmal 22-jährig, in Rom die Organisation European Alternatives.

Ihre gemeinsame Agentur ließe sich heute, nach ereignisreichen 13 Jahren voller Krisen, doch mit der Erfahrung zahlloser Meetings und Kongresse auf dem Buckel, am besten als progressive Sammelplattform beschreiben. Der Anspruch von European Alternatives ist ausdrücklich weltbürgerlich. Ihr Motto lautet: "Democracy, equality and culture beyond the nation state".

Der Nationalstaat muss überwunden werden, meinen die beiden Pasta-Freunde Marsili und Milanese. Obwohl der Ursprung jeder Souveränität ihrem Wesen nach in der Nation liegt, gleicht letztere heute einem Paravent. Hinter ihm können völlig ungestört jene Mechanismen greifen, die es dem Neoliberalismus ermöglichen, Politik gegen die Mehrzahl der Bürger zu betreiben.

Betroffen von neoliberalen Profitgelüsten sind geringfügig Beschäftigte, Selbstständige, Dienstleister der "Gig Economy". Es trifft aber auch Migranten und Personen, die Gefahr laufen, ihre europäische Staatsbürgerschaft aus Gründen der Staats- und Sicherheitsraison zu verlieren.

Marsilis und Milaneses Slogan von der "Überwindung des Nationalstaats" tönt umso süßer in den Ohren derjenigen, die schon seit geraumer Zeit für ein "supranationales Europa" die Werbetrommel rühren. Der Blick auf die anstehenden Wahlen zum EU-Parlament lehrt ohnedies auch gestandene Pessimisten das Fürchten.

Grußwort von Robert Menasse

Beobachter sehen die Kräfte des Populismus und die Vertreter der illiberalen Demokratie im Aufwind. Zugleich steuern Robert Menasse und Ulrike Guérot, glühende Verfechter eines zu vereinigenden Kontinents, zur Erweckungsschrift der beiden Italiener ein Vorwort bei. Wir erinnern uns: Menasse fordert eine grundlegende Demokratisierung der Europäischen Union. Der Rat der Regierungschefs soll entmachtet, Kommission und Parlament hingegen sollen aufgewertet werden.

Zwischen den Kräften des linken Pragmatismus und der rechten, nationalstaatlichen Beharrung tut sich, scheint es, endlich freier, ideologisch noch unbestimmter Platz auf. Die rechte Zeit, wie Marsili und Milanese argumentieren, um eine internationale Partei für alle Veränderungswilligen zu gründen.

Jung soll die Gruppierung sein, ungebunden und frei. Aktivistisch, plattformnah und über alle Maßen initiativ ("Bürgerinnen und Bürger auf der Überholspur"). Sie soll vor allem überall dort ihr segensreiches Wirken entfalten, wohin die Ausläufer der Institutionen aufgrund akuter Verknöcherung nicht mehr reichen. Aber auch den Neoliberalismus möchten die jungen Wilden überlisten. Man zehrt ohnedies vom Genuss der "Weltbürgerrechte". Die Errungenschaften des Wohllebens, die den Aktivisten ihr nomadisches Leben ermöglichen, werden stillschweigend vorausgesetzt.

Das Tüpfelchen auf dem Satzungs-i: Die Autoren fordern die Einberufung einer europäischen Konstituante. Diese soll sich aus europäischen Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzen, parallel zu den kommenden (übernächsten?) Europawahlen gewählt werden und danach eine Verfassung für ein neues Europa erarbeiten.

Stier an den Hörnern packen

Der seit kurzem ins Deutsche übersetzte Reader von Marsili und Milanese zeigt es im Titel Wir heimatlosen Weltbürger vor: Den populistischen Stier packt man an den Hörnern, indem man den Heimatbegriff preisgibt. Seinen Gehalt rettet, wer ihn auf die nächsthöhere Ebene hebt. Was in den Netzen der Nationalstaatlichkeit festhängt, soll endlich transnational flüssig werden. Nicht an ihren positiven Eigenschaften sind die jungen Weltveränderer zu erkennen. Appelliert wird, so allgemein wie nachdrücklich, an die Grundbegriffe von Würde, Gemeinwohl und selbstbestimmtem Leben.

Hierin treffen sich Proeuropäer wie Menasse und die jungen Tagungsrevolutionäre von European Alternatives. Eine Politik, die sich der Abschaffung von himmelschreienden Ungerechtigkeiten widmet, könne nicht länger auf den Fetisch der Nationalstaatlichkeit setzen. Staaten sind Container. Sie ermöglichen es herrschenden Eliten, sich untereinander abzusprechen, um die Bevölkerungen zu spalten und die Demokratie – unter Hinweis auf wirtschaftliche "Standortvorteile" – erpressbar zu halten.

Staaten als Grenzschutzagenturen

So gesehen schaffen auch die demokratischen Einrichtungen der EU nichts als Verdruss. Sie bringen eine transnationale Klasse politischer "Repräsentanten" hervor, die keine soziale Bindung an ihre Herkunftsnationen mehr hat. Die europäischen Nationalstaaten verkommen demgegenüber zu Grenzschutzagenturen. Bleibt noch der Anarchismus? Nein, denn der Neoliberalismus schnappt sich auch ihn und macht ihn zu Geld.

Es sind noch zahllose Hürden zu überwinden, bis aus Europa ein grenzenloses Gebilde geworden ist, das alle Bürgerinnen und Bürger, auch die neu Hinzugekommen, von den Früchten seiner Wertschöpfung kosten lässt. Die fiebrige Unruhe aber, die zum Beispiel regelmäßig die Menschen auf Frankreichs Straßen erfasst, ist auch in Wir heimatlosen Weltbürger mit Händen zu greifen. (Ronald Pohl, 26.4.2019)