Hat den Durchblick: Neil Hannon huldigt auf seinem insgesamt zwölften Album als Divine Comedy den Fortschrittsverlierern in der Arbeit und der Freizeit.

Foto: Ben Meadows

Alles hätte so gut werden können für den flexiblen, immer besser ausgebildeten Mittelstand – damals in den 1980ern, als "graue B-Filmhelden" die Welt regierten und britische Schlachtschiffe zum Schutz einiger Schafherden in die raue, aufgewühlte See vor Argentinien aufbrachen.

Das Klappcover von "Office Politics", dem neuen Album von Divine Comedy, zeigt anständige Britinnen und Briten vor rund 35 Jahren bei der Büroarbeit. Wir erinnern uns: Margaret Thatcher hatte der stolzen Arbeiterschaft Großbritanniens erfolgreich das Genick gebrochen und die Gewerkschaften gedemütigt. Neue Jobs entstanden; vor allem der Dienstleistungsbranche schien ein Boom ins Haus zu stehen.

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Doch wieder wurde es nichts mit dem versprochenen Leben in Saus und Braus. Für eine Unzahl von Anständigen und Leistungswilligen gingen in "merry old England" rascher die Lichter aus, als sie die alten, gegen Ende der 80er noch einen halben Meter tiefen Computer hochgefahren hatten.

Schwüler Duft der Vergeblichkeit

Neil Hannon, Englands markantester Pop-Dandy, singt heute ohne jeden Anflug von Hohn über die wahren Verlierer der x-ten industriellen Revolution. Es sollte schließlich bis heute nicht die letzte geblieben sein. Was hätten sich die Leute nicht gefreut über, endlich: ein Leben ohne Plackerei. Maschinen hätten die ganze Schmutzarbeit verrichtet, und die lähmenden Bürostunden wären einer Art Dauerparty gewichen: Sex am Kopiergerät (damals schien dergleichen noch nicht mit dem Ruch des Sexismus behaftet). Zeit für Pferdewetten. Häufigere Ausflüge nach Mallorca zum Piña-Colada-Trinken!

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Hannons famose Rollenlieder atmen etwas vom herben, schwülen Duft der Vergeblichkeit. Der neoliberale Kapitalismus unterwirft die Arbeitnehmerinnen dem unergründlichen Diktat der Algorithmen. Computerprogramme basteln aus Personaldaten gläserne Menschen. Die Blechtrottel erkundigen sich sogar nach den unbewussten Regungen ihrer Probanden. Träume? Ach, das Übliche, antwortet Hannon in dem Song "Psychological Evaluation": das Hängen in schwindelerregenden Höhen. Oder fruchtloses Anstehen in endlosen Büroschlangen. Die Hölle sind immer die anderen: die mit den etwas dichter bedruckten Gehaltszetteln.

Und so feiert Hannon die Degradierung des Menschen durch die Macht der Moderne mit einem behutsamen Fingerschnippen und der Kunstfertigkeit eines Kurt Weill. Einmal sorgt die Marimba für die arg aufgesetzte Partylaune. Das in Aussicht gestellte Karibikflair ist in etwa so prickelnd echt wie die Sonnenuntergangstapete im Reihenhauskeller.

Ein anderes Mal mimt Hannon, das schöpferische Genie des Einmannunternehmens Divine Comedy, den Glamrocker. Passt haargenau in die 1980er, denn mit den Musikvorlieben verhält es sich wie mit Wohnungseinrichtungen. Der Geschmack hinkt immer um mindestens ein Jahrfünft nach. Warum also nicht die Erinnerung an den proletarischen Lidschattenglamour von Sweet?

Er glaubt an die Menschen

Vor allem aber schreibt und singt niemand so herzzerreißend über die Schicksale der Menschen hinter den Lohnzetteln wie Hannon. "Norman and Norma", das klassische Mittelstandsehepaar, heiraten, schon um des Reimes willen, in "Cromer". Am Ende der lebenslangen Schufterei, mit Abstechern auf die Balearen und vorgeschriebenem Kindersegen, begegnet ihnen das Gespenst der Altersarmut. Auf "Norma" reimt sich jetzt "double pneumonia".

Und so hat der Nordire Neil Hannon ein bewegendes Album zur Zeit aufgenommen – gerade indem er über die jüngere und jüngste Vergangenheit singt. Ray Davies von den Kinks hätte das nicht beredter hinbekommen. Zwei Todesmärsche beschließen praktischerweise diese Ode an die verfehlte Life-Work-Balance.

Die Fabriksirene hat ausgepfiffen. Doch einen kolossalen Witz hat der Intellektuelle mit dem Herzen für die biedere Durchschnittsseele in die Mitte seiner einstündigen CD gepackt. In "Philip And Steve’s Furniture Removal Company" gründen Philip Glass und Steve Reich eine Möbelspedition. Den beiden Göttern der US-Minimal-Music huldigt der europäische Kollege natürlich streng in deren Stil. Hannon gibt den stark repetitiven Jokus übrigens als Idee für eine Sitcom aus. So verhält es sich auch mit seiner überragenden Liedkunst: immer anders, immer sich selbst verlässlich treu! So kann er auch dem Fortschritt etwas pfeifen. (Ronald Pohl, 21.6.2019)