Drei Tage nachdem der Regierung von Sebastian Kurz im Mai das Misstrauen ausgesprochen wurde, trat eine der größten türkis-blauen Reformen in Kraft: die neue Sozialhilfe, zuvor Mindestsicherung genannt. Opposition und Hilfsorganisationen hatten das neue Gesetz, das vor allem Verschärfungen beim Bezug der Sozialleistung vorsieht, bereits im Vorfeld heftig kritisiert. Eineinhalb Monate nach ihrem Inkrafttreten wird die Reform nun auch den Verfassungsgerichtshof beschäftigen. Die SPÖ hat dem Höchstgericht am Mittwoch ihre Beschwerde übermittelt. Das Dokument liegt dem STANDARD vor.

Mögliche Entscheidung bis Jahresende

Insgesamt haben die Sozialdemokraten mit ihren Anwälten neun Punkte ausgemacht, in denen die von ÖVP und FPÖ beschlossene Sozialhilfe der Verfassung widersprechen soll. Wie schnell der Verfassungsgerichtshof nun darüber befinden wird, lässt sich nicht genau sagen. "Ich würde mir wünschen, dass eine Entscheidung noch vor Jahresende vorliegt", sagt der Rechtsanwalt Michael Pilz, der die SPÖ in der Angelegenheit vertritt.

Familien bekommen durch die neue Sozialhilfe weniger Geld, je mehr Kinder sie haben – ab dem dritten Spross nur 44 Euro extra pro Monat.
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Einer der Hauptaspekte der türkis-blauen Reform ist eine durch den Bund festgelegte Höchstgrenze für die Sozialhilfe – und zwar in der Höhe des sogenannten Ausgleichszulagenrichtsatzes, der 2019 monatlich rund 885 Euro beträgt. Ein Paar an Beziehern bekommt zwei Mal 70 Prozent des Richtsatzes, also 1240 Euro.

Existenz nicht gesichert

In der Beschwerde der SPÖ wird nun kritisiert, dass die neue Sozialhilfe im Gegensatz zur Mindestsicherung nur noch den "Lebensunterhalt unterstützt" und nicht mehr die Existenz absichere, wie es die Verfassung vorsehe.

Darüber hinaus wird die eingeführte Deckelung des Geldbezugs für Wohngemeinschaften bemängelt. Leben mehrere volljährige Sozialhilfebezieher in einer "Haushaltsgemeinschaft", können sie gemeinsam nur 175 Prozent des Richtsatzes erhalten. Dadurch seien etwa Familien mit erwachsenen Kindern und Wohngemeinschaften benachteiligt. Außerdem wurde eine starre Deckelung der Bezugshöhe bereits in Burgenland und in Niederösterreich als verfassungswidrig aufgehoben, argumentiert die SPÖ.

Problem Kinderarmut

Parteichefin Pamela Rendi-Wagner moniert vor allem, dass Familien ab dem zweiten Kind für jeden weiteren Nachwuchs nur noch höchstens fünf Prozent des Richtsatzes bekommen können – also monatlich etwa 44 Euro extra. Auch dieser Aspekt ist Teil der Verfassungsbeschwerde. "Dieses Gesetz schafft Kinderarmut und zementiert Perspektivenlosigkeit ein", sagt Rendi-Wagner. "Für mich ist klar, dass die Sozialhilfe, wie die letzte Regierung sie beschlossen hat, inakzeptabel und für einen Sozialstaat wie Österreich unwürdig ist."

In mehreren Punkten wird von der SPÖ außerdem beanstandet, dass der Bund mit dem Gesetz seine Kompetenz überschreitet und den Ländern zu strenge Vorgaben macht. ÖVP und FPÖ durften die neue Sozialhilfe nämlich lediglich in ein sogenanntes Grundsatzgesetz gießen – so ist es in der Verfassung vorgesehen. Das bedeutet, dass der Bund eine Angelegenheit nur in Grundzügen regeln kann und den Ländern Spielraum für die Ausgestaltung lassen muss. "Im vorliegenden Fall wird den Ländern aber kaum eine Möglichkeit gelassen, auf die besonderen Verhältnisse vor Ort Rücksicht zu nehmen", sagt Pilz.

Verknüpfung mit Deutsch-Niveau

Als verfassungswidrig bewerten die Sozialdemokraten auch die Verknüpfung der Sozialleistung mit Sprachkenntnissen. Aktuell bekommt man die volle Leistung nur mit Deutsch-Niveau B1 oder Englisch-Niveau C1 und ansonsten rund 300 Euro pro Monat weniger. Das sei unverhältnismäßig. Als Beispiel wird angeführt, dass etwa auch Analphabeten die volle Leistung benötigen, wenn sie in Not geraten.

Eingebracht wurde die rote Klage über den Bundesrat in Form einer Drittelbeschwerde: Denn ein Drittel der Mitglieder der Länderkammer des Parlaments kann Bundesgesetze beim Verfassungsgerichtshof bekämpfen. Die SPÖ verfügt dafür über die nötigen Abgeordneten im Bundesrat.

Länderinteressen untergraben

"Das Gesetz nimmt den Bundesländern die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welche Personengruppen sie in welcher Form unterstützen wollen", sagt die rote Bundesratsfraktionschefin Korinna Schumann. Auch Caritas, Diakonie und andere Sozialeinrichtungen hatten die Reform als "schweren Fehler" bezeichnet. (Katharina Mittelstaedt, 17.7.2019)