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Die Vorbereitungen für den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China laufen auf Hochtouren. Der Druck auf die Führung in Peking von außen, die Staatswirtschaft zurückzubauen, nimmt zu.

Foto: reuters

Für Verschwörungstheorien anfällige Ideologen in Peking haben wieder einmal einen Grund, Gefahren für Chinas System zu wittern. Kurz vor dem 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober, den die Kommunistische Partei als großen Erfolg ihres in Wirklichkeit nur halbherzig reformierten Sozialismus feiern lässt, ertönen von überall her Rufe, endlich eine heilige Kuh zu schlachten. Chinas Führung solle ihre Bevorzugung der aufgeblähten Staatswirtschaft aufgeben.

Sogar die Notenbank und ihr Gouverneur Yi Gang plädieren unter dem Stichwort "competitive neutrality" an den Staat, für Gleichheit im Wettbewerb zwischen Staats- und Privatunternehmen zu sorgen. US-Präsident Donald Trump, der für ein Ende seines Handelskrieges von Peking eine radikale Abkehr der Förderung und Subventionierung von Staatsunternehmen fordert, steht damit nicht mehr allein da.

Die Motive für solche Aufrufe zum Rückbau der Staatswirtschaft unterscheiden sich. Trump geht es um "America first". Der Internationale Währungsfonds (IWF) rät China zum Umbau, um die mangelhafte Produktivität der Wirtschaft anzukurbeln. Ins gleiche Horn bläst der 150-seitige Report "Innovatives China", den die Weltbank zusammen mit einer Reformgruppe chinesischer Ökonomen vom Forschungszentrum des Staatsrats herausgegeben hat.

Die Wirtschaft habe "keinen Dampf" mehr, weil sie in den vergangenen 40 Jahre für ihren Boom alle einstigen Antriebskräfte ausgeschöpft habe – ob in ihrer Rolle als Werkbank der Welt oder bei der Ausbeutung der billigen Migrationsheere vom Lande. Ohne wirkliche Strukturreformen, darunter das Ende der privilegierten Rolle der Staatswirtschaft, würde der Weg für "neue Reformtreiber" nicht frei, um Chinas Wirtschaftsweise innovativ umbauen zu können. Das Wachstum ging im Jahr 2018 auf 6,6 Prozent zurück und fiel im zweiten Quartal 2019 auf 6,2 Prozent. Wenn Peking so weitermache, würde das Wachstum des Landes nach Weltbankprognose auf vier Prozent in den 2020er-Jahren und auf 1,7 Prozent in den 2030er-Jahren einbrechen. "China steht vor einer Weggabelung", so der Befund.

Kritischer Jahresbericht der EU-Handelskammer

So sieht es auch der am Dienstag veröffentlichte und 384 Seiten starke Jahresbericht der Pekinger EU-Handelskammer. Das einstige Wachstumsmodell "hat sich festgefahren", sagte EU-Kammerpräsident Jörg Wuttke bei der Vorstellung. "China muss sich vor allem von seiner Subventionspolitik für Staatsunternehmen (SOE) verabschieden" und auf das Wachstum der produktiveren und innovativeren privaten Wirtschaft setzen. Die Europäer hätten daran auch deshalb ein "gesteigertes Eigeninteresse", weil ihre Unternehmen "heute viel abhängiger von China sind. Wir hoffen, dass es wirtschaftlich wieder die Kurve kriegt."

Das tut es nicht, solange der Staatssektor weiter von Peking gepäppelt wird. Die Zahl an SOE-Unternehmen sei auf heute 167.000 angewachsen. Sie machten 50 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, saugten 80 Prozent der Kredite auf. Ihre Schulden hätten sich im Zeitraum 2007 bis 2017 vervierfacht. Zwischen 2014 und 2018 nahmen ihre Anlage-Vermögenswerte von umgerechnet 15,3 Billionen US-Dollar auf 26,8 Billionen Dollar zu. Gleichzeitig "explodierten" ihre Schulden von zehn Billionen auf 17,3 Billionen Dollar. Laut dem EU-Papier halbierte sich der Gewinnrückfluss aus SOE-Vermögenswerten – also die Rendite – von sechs auf drei Prozent.

"Erosion im langfristigen Vertrauern"

"China schlittert in eine Wirtschaftskrise hinein", warnte Wuttke. Wenn es das den Markt belastende Problem seiner ineffizienten Staatswirtschaft nicht adressiere, würde sich die "Erosion im langfristigen Vertrauen" der europäischen Unternehmen in seine Wirtschaft fortsetzen.

Pekings Führung hat auf Gefahrenlagen bisher rasch und pragmatisch reagiert, indem sie auf neuen Reformkurs umschwenkte. So trat etwa Deng Xiaoping 1978 die Öffnung Chinas los, verhinderte 1992 mit seiner Reformreise in den Süden einen Rückfall in alte planwirtschaftliche Zeiten. Auf die Asienkrise 1998 antwortete Premier Zhu Rongqi mit dem Umbau der Staatsindustrie und setzte 2001 Chinas WTO-Beitritt durch. 2009 aber reagierte Peking auf die Weltfinanzkrise nicht mehr mit neuen Reformen, sondern stopfte den Dammbruch mit einer Geldschwemme, an deren Folgen China noch heute laboriert.

Ideologische Probleme

Hinzu kommen ideologische Probleme. Nach Lesart der heutigen Pekinger Führung würden einschneidende Reformen in der Staatsindustrie an dem Eingemachten des sozialistischen Systems rühren, weil sie die beherrschende Rolle der Staatsunternehmen untergraben, die Garant ihrer Parteimacht ist. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Folgen einer unkontrollierten Privatisierung in Russland treiben Ängste vor Verlust an Stabilität die chinesischen Staatsführer um.

Alle Augen und Ohren sind nun auf Staats- und Parteichef Xi Jinping gerichtet, ob er in seiner Grundsatzrede zur 70-Jahr-Feier am 1. Oktober die vielen Forderungen nach den überfälligen Reformen der Staatswirtschaft aufgreift. Wenig deutet darauf hin – schließlich hat Xi in den vergangenen Jahren mehrfach kundgetan, er wolle die sozialistischen Staatsunternehmen "stärker, besser und größer machen".

In einer neu erschienenen Sammlung vieler unveröffentlichter Reden über "Chinas vertiefte Reformen", die Xi zwischen Ende 2012 und Dezember 2018 hielt, findet sich ein sehr aktuell wirkender Passus: Reformiert würde nur, "was der Sache der Partei und des Volkes nützt, und nicht, um den Applaus mancher Leute einzuheimsen". Es müsse klar werden, "was wir reformieren und was wir nicht reformieren wollen – und auch nicht tun werden, egal wie viel Zeit vergeht". China könne es sich nicht erlauben, durch unüberlegte Reformen "systemzerstörerische Fehler" zu begehen. (Johnny Erling, 24.9.2019)