Peter Filzmaier, das Politorakel der Nation.

Foto: www.corn.at Heribert CORN

Was wäre ein Wahlkampf ohne ihn? Der Wahlsonntag? Auch in diversen politischen Krisen muss Peter Filzmaier ran. Dann sitzt der bekannteste Politikwissenschafter des Landes im ORF-Studio und erklärt der Nation, was gerade so auf der politischen Vorder- und Hinterbühne abgeht. Dass er überhaupt zur TV-Instanz in Sachen Politikerklärung wurde, ist indirekt Bill Clintons "Lewinsky-Gate" zu verdanken. Ein Student in einem von Filzmaiers Seminaren war 1998 gleichzeitig Chef der ZIB3 – Armin Wolf – und empfahl den damals 31-jährigen Amerika-Kenner, der 1997 ein Buch über die US-Wahl veröffentlicht hatte, als Studiogast, der die Vorgänge in den USA live erklären sollte.

STANDARD: Sie wirken oft wie ein wandelndes politikwissenschaftliches Lexikon. Wie würden Sie den Wörterbucheintrag zu "filzmaiern" definieren? 2015 war es auf Platz drei der Wahl zum "Wort des Jahres", die das Forschungszentrum für österreichisches Deutsch an der Uni Graz durchführt.

Filzmaier: Ich würde natürlich definieren: "analysieren". Ich hoffe, niemand definiert "klugscheißen".

STANDARD: Alleine das zeigt schon, dass Sie im Laufe der fast zwanzig Jahre als politischer "Chefkommentator" des Landes einen besonderen Status erlangt haben, quasi als oberste "Vertrauensinstanz" in Sachen Politikerklärung – mit enormen Beliebtheitswerten. Das STANDARD-Forum würde Sie ungeschaut zum Präsidenten machen ... Was macht das mit einem? Spüren Sie die Last der Prominenz und eine besondere Verantwortung? Oder sagen Sie: Ich bin Politologe und mache einfach nur meinen Job?

Filzmaier: Im Moment des Live-Interviews kann ich völlig ausblenden, wie viele zuhören, und ich versuche einfach, bestmöglich zu antworten. Natürlich bringt das auch Verantwortung mit sich. Die Definition, gerade am Wahlabend, muss sein: Was immer man auch pointiert und scharf analysiert, soll in einem Datenzusammenhang begründbar sein. Deshalb haben wir ja eine Wahlmotivforschung und laufend ganz toll punktgenaue Hochrechnungen in Kooperation mit SORA und Christoph Hofinger. Das funktioniert am Wahlabend nur mit einer exzellenten Datengrundlage.

STANDARD: Wie müssen wir uns einen typischen Samstag von Peter Filzmaier vor einem Wahltag vorstellen? Studieren Sie alle Ergebnisse der vergangenen 50 Jahre?

Filzmaier: Die Vorstellung in ein Bild gebracht: ein Mann vor einem Schreibtisch sitzend, mit einem Laptop und Internet. Ja, die Vorbereitung ist sehr viel, manchmal sogar bis zu 90 Prozent auf Dinge, die nachher zum Glück keiner so genau wissen will. Aber das ist professionell. Ein Beispiel: Bei uns wäre es aufgrund der Wahlrechtsarithmetik möglich, dass eine Partei weniger Stimmen, aber trotzdem ein Mandat mehr als eine andere Partei hat. Das muss ich dann auch ohne Computerhilfe oder Grafik im Fernsehen allgemein erklären können. Außerdem sind wir mit unserer Wahltagsbefragung schon ab Mittwoch mit einem Pretest im Feld. Das heißt, am Samstag sitze ich schon über sehr aktuellen Daten und denke mir mögliche Szenarien und Erklärungshypothesen dafür durch.

STANDARD: Geht sich am Wahlsonntag eine Echtzeitwahl aus, oder wählen Sie per Brief?

Filzmaier: Ich bin Wahlkarten- bzw. Briefwähler. Es würde sich ausgehen, auf dem Weg zum ORF am Wahllokal, das sehr früh öffnet, vorbeizufahren, aber irgendwas ist ja immer – auch darum bin ich Briefwähler.

STANDARD: Welches Ergebnis würde Sie am Sonntag wirklich überraschen?

Filzmaier: Die sichere Antwort wäre: wenn die Liste von Peter Pilz Erster wird. Die ehrliche Antwort ist: Überraschend wäre natürlich, dass die ÖVP nicht Erster wird.

STANDARD: Und was an diesem Wahlkampf hat Sie überrascht oder war speziell?

Filzmaier: Ich war überrascht von Ibiza, das ja der Auslöser für die Neuwahl war. Und man hat gemerkt, dass auch die Parteien vom Wahlkampf überrascht wurden, weil es keine geschafft hat, eine hundertprozentig schlüssige Geschichte zu erzählen. Die ÖVP schwankt zwischen einem Amtsinhaberwahlkampf ohne Amt und der Rolle des armen Verfolgten. Bei der SPÖ hat es sehr geholpert. Sie hätte insbesondere sozial vermitteln müssen, was alles wunderbar wird, wenn sie wieder Regierungsverantwortung bekommt, ist aber erst sehr spät auf die aus meiner Sicht richtige Idee gekommen, das anhand von Einzelfällen und nicht mit Statistiken auf hohem Abstraktionsniveau zu vermitteln. Die FPÖ musste eine Jetzt-erst-recht-Geschichte konstruieren, aber mit einer Zweimarkenstrategie, und die Unguided Missile Heinz-Christian Strache und seine Serientäter-Interviews noch im August mühsam unter Kontrolle bringen. Sicher auch nicht das Produkt strategischer Planung.

STANDARD: Und die kleineren Parteien?

Filzmaier: Die Partei Jetzt – Liste Pilz hat betont, FPÖ-Wähler ansprechen zu müssen, was auf den ersten Blick nicht unlogisch ist, weil es nach Ibiza enttäuschte FPÖ-Wähler gibt. Gleichzeitig hat aber Parteichefin Maria Stern immer wieder betont, sie hat stets nur links gewählt, und ihr größter Wunsch ist eine linke Mehrheit, was als Signal an FPÖ-Wähler strategisch verhaltensauffällig erscheint. Die Neos hatten selbstverschuldet das Dilemma, dass sie ja so gern über Wirtschaft und Bildung reden möchten, nur dummerweise reden alle Politiker und Medien über was anderes. Den Grünen ist zwar das Umweltthema in den Schoß gefallen, aber auch da vermisse ich neben der globalen Ebene, die vom Problemansatz zwar richtig ist, was es konkret für den Einzelnen bedeutet, an Gutem, aber auch, wo man selbst was tun muss.

STANDARD: Welche Koalition halten Sie aus heutiger Sicht für die wahrscheinlichste?

Filzmaier: Wenn’s nach inhaltlichen Kriterien geht, ganz klar Türkis-Blau, denn die Übereinstimmung bei Themenfragen zwischen ÖVP und FPÖ liegt bei über 80 Prozent. Zum Vergleich: Zwischen ÖVP und Grünen sind es weniger als 25 Prozent.

STANDARD: Und zwischen ÖVP und SPÖ?

Filzmaier: ÖVP und SPÖ wäre die logische Alternative, weil sich ja nur diese Zweiervarianten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgehen. Das Problem ist das Scheitern der letzten großen Koalition als eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners, wo nicht einmal mehr Abtauschgeschäfte funktioniert haben, und dass Sebastian Kurz aufgrund seiner Jugend politisch ausschließlich in einer Zeit sozialisiert wurde, in der zwischen SPÖ und ÖVP, damals in dieser Reihenfolge, fast gar nichts mehr ging – und das hat ihn geprägt.

STANDARD: Täuscht der Eindruck, oder sind Sie bei Ihren Analysen ein bisschen goscherter geworden? Frank Stronach war "plemplem" oder Heidi Hortens 49.000-Euro-Spenden an die ÖVP erinnerten Sie an "Zielpunktsaufen auf 0,49 Promille hin". Trauen Sie sich mehr, oder dürfen Sie mehr?

Filzmaier: Natürlich ist man bei den ersten Fernsehauftritten im Zweifelsfall immer bei der defensiveren Formulierung. Aber es gab in der mittlerweile so langen Zeit mit dem ORF nie eine Anleitung, was ich sagen soll und was nicht. Der einzige Hinweis, und der war sehr wichtig, kam von Ex-ORF-TV-Chefredakteur Karl Amon, der mir gesagt hat: Es gibt keinerlei Vorgaben für dich, nur eine Bitte haben wir: Es schauen bis zu einer Million Menschen zu, davon sind für dich in deiner Fachöffentlichkeit vielleicht 50.000 wichtig, vergiss bitte nie, dass wir die Sendung für die anderen 950.000 machen. Das habe ich immer im Hinterkopf.

STANDARD: Sie wollten ja eigentlich Sportreporter werden. Was ist passiert? Warum sind Sie in der Politikwissenschaft gelandet?

Filzmaier: Das stimmt, ich war und bin ein Sportnarr, habe selbst Laufsport gemacht, bin aber auch ein Sportnachrichtenjunkie, der stundenlang bei Sportübertragungen vor dem Fernseher verbringt und in olympischen Nächten, wenn’s eine Zeitverschiebung gibt, einfach aufbleibt. Immerhin habe ich gerade ein Sportbuch geschrieben, das um den Jahreswechsel erscheinen wird.

STANDARD: Wie viele Angebote von politischen Parteien hatten Sie eigentlich schon?

Filzmaier: Null. Das spricht übrigens für die Intelligenz der Parteien, weil die Antwort nein wäre. Aus prinzipiellen Gründen, aber auch, und das ist durchaus bewundernd für Politiker, die gut sind, gemeint: weil ich das nicht könnte. Das verlangt ein so umfassendes Qualifikationsprofil, wo die politikwissenschaftliche Fundierung nur ein kleiner Teil davon ist. Hinzu kommt Fachkompetenz für Ressorts und Organisationskompetenz, die ich nicht habe, weil ich ein privates Forschungsinstitut mit fünf bis zehn Leuten leite. Das ist nichts im Vergleich zu einem Ministerium mit tausenden Personen und einem Milliardenbudget.

STANDARD: Wir schließen hiermit also aus, dass Sie irgendwann als Elder Statesman der Politikwissenschaft die Politikpraxis probieren könnten?

Filzmaier: Ja. Der Seitenwechsel könnte nur zum Sportreporter sein. (lacht) (Lisa Nimmervoll, 28.9.2019)