Am 10. Oktober werden gleich zwei Literaturnobelpreise – der für 2018 und 2019 – vergeben. Ivo Andric (Bild) bekam ihn im Jahr 1961 verliehen.

Foto: Museum der Stadt Belgrad

STANDARD: Ivo Andric war der einzige Mensch, der Gavrilo Princip, den Attentäter von Sarajevo, und Adolf Hitler persönlich kannte, die Auslöser der beiden Weltkriege, der eine unbewusst, der andere planvoll. Allein deshalb verwundert es, dass vor Ihnen niemand auf die Idee kam, eine Biografie über Andric zu schreiben. Aber Andric war vor allem ein Schriftsteller von Weltrang. Worin liegt das Faszinosum seiner Person und seines Werks?

Michael Martens: Viele Schriftsteller sind große Dichter gewesen, ohne ein interessantes Leben geführt zu haben. Bei Andric haben wir einen großen Dichter und einen Menschen, der im vergangenen Jahrhundert eine sehr wichtige Rolle in seinem Land gespielt hat. Er stand an vielen entscheidenden Weggabelungen dieses Jahrhunderts als Beteiligter.

STANDARD: Andric erhielt 1961 den Literaturnobelpreis "für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet". Die Würdigung bezieht sich auf die sogenannte Bosnische Trilogie – die Romane "Die Brücke über die Drina", "Das Fräulein" und "Wesire und Konsuln". Darin beschreibt er Leben und Geschichte in Bosnien-Herzegowina. Kritiker werfen ihm vor, mit seiner ausschweifenden Beschreibung von Hass und Gewalt den späteren Kämpfern gegen die bosniakischen Muslime beim Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren literarische Munition geliefert zu haben. Trifft das zu?

Martens: Wir können Richard Wagner nicht vorwerfen, dass Hitler seine Opern mochte. Und wir können Andric nicht vorwerfen, dass die Vordenker der Kriege in Jugoslawien sich zum Teil auf ihn bezogen haben.

STANDARD: Kritisch wurde auch die Dissertation "Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter Einwirkung der türkischen Herrschaft" bewertet, mit der der junge jugoslawische Diplomat Andric 1924 an der Universität Graz promoviert wurde. Renommierte Wissenschafter warfen ihm Eurozentrismus und Unkenntnis des Islam vor.

Martens: Andric war ein großer Kenner und Beschreiber Bosniens, aber kein großer Kenner des Islam. Ein Islamwissenschafter ist zu dem Schluss gekommen, dass Andric in den Grundlagen wie im Detail den Islam nicht wirklich kannte, aber dennoch die richtigen Schlüsse zog bei der Beschreibung der Bosnier. Das zeichnet gute Dichter aus: Sie ahnen mehr, als sie wissen.

STANDARD: Aus einer kroatisch-katholischen Familie stammend, wurde Andric als Jugendlicher zum Jugoslawisten. Er bekämpfte die Habsburgerherrschaft und sympathisierte mit den Verschwörern von Sarajevo 1914. Dafür saß er ein Jahr im Gefängnis in Split, wurde danach verbannt und 1917 amnestiert. Woher rührt sein Hass auf die Habsburger, die in Bosnien ein vergleichsweise gemäßigtes Regime führten und eine Modernisierung des Landes betrieben?

Martens: So sehen wir das heute, so hat es der Zeitgenosse Andric aber nicht gesehen. Seine emotionale Beziehung zu diesem Komplex war so stark, dass ihm ein nüchterner Blick auf die Dinge nicht möglich war. So wie Joseph Roth das Habsburgerreich idealisierte, hat es Andric gleichsam verdunkelt. Und wenn es irgendeine Überzeugung gibt, zu der Andric sein Leben lang gestanden ist, dann war es der Jugoslawismus. Der Gedanke also, dass die Südslawen gemeinsam in einem Staatsverband leben sollten, weil sie dann geschützt davor seien, von den Großmächten umherdirigiert zu werden. Die Verkleidung dieser jugoslawischen Idee, ob es also eine Monarchie, ob es ein guter oder schlechter Staat war, ob dieser Staat die Rechte seiner Bürger achtete oder nicht, war für ihn zwar nicht völlig unbedeutend, aber doch zweitrangig.

STANDARD: Als Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Berlin versuchte Andric – vergeblich – dessen Zerstörung durch Hitlerdeutschland zu verhindern. Nach dem Krieg trat er Titos Bund der Kommunisten bei und genoss als Schriftsteller öffentliches Ansehen und Privilegien, wiewohl Tito ihn nicht sonderlich mochte. Zu den Verbrechen des Tito-Regimes schwieg er. Muss man zwischen dem Menschen und dem Schriftsteller Andric unterscheiden?

Martens: Andric ist in seinem Leben viele Kompromisse eingegangen. Das Einzige, was er nie kompromittiert hat, ist seine Literatur. Mit einer kurzen Ausnahme. Zwischen 1944 und 1948 hat er einige Geschichten verfasst, die literarisch Flachbauten sind. Er meinte, sich so den Kommunisten andienen zu können. Milovan Djilas, erst Wegbegleiter und Freund Titos und später Dissident, hat es sinngemäß so ausgedrückt: Andric hat niemanden ans Messer geliefert, aber er hat auch niemandem geholfen, der ans Messer geliefert wurde.

STANDARD: Hat Andric womöglich sich selbst gemeint, als er über ein nicht namentlich genanntes literarisches Talent schrieb: "So ist er, wenn er sich nicht auf dem Boden seiner herausragenden Fähigkeiten befindet, oft kleiner und schwächer als der Durchschnittsmensch."

Martens: Das Zitat stammt aus seinem reichhaltigen Fundus von Notizen, die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Ich habe es als mögliches verstecktes Selbstporträt gelesen. Andric war sehr selbstkritisch, hat diese Selbstkritik aber nur in Notizen geäußert, die er nicht an die Öffentlichkeit gegeben hat.

STANDARD: In frühen Texten fällt Andrics Neigung zu Larmoyanz, Depressivität und Pessimismus auf, in den späteren großen Werken eine exzessive, geradezu quälerische Beschreibung von Gewalt. Wollte er sich damit freischreiben, quasi homöopathisch selbst therapieren?

Martens: Ich maße mir nicht an zu sagen, warum er das getan hat. Jedenfalls steht die Gewalt nie um ihrer selbst willen in den Texten, sie trägt stets die Handlung weiter. In Wesire und Konsuln etwa werden die beiden Diplomaten, der Franzose und der Österreicher, zum Wesir geladen. Dort wird vor ihnen ein Korb mit abgehackten Ohren und Nasen ausgeschüttet. Danach beschreibt Andric großartig, wie sich die beiden europäischen Konsuln einander annähern. Diese Annäherung wäre ohne die vorangestellte Szene eine bloße Behauptung. Erst angesichts des gemeinsam durchlebten Schreckens der beiden wird sie glaubwürdig.

STANDARD: Die künstlerisch produktivsten Jahre von Andric waren jene des Zweiten Weltkriegs. Während dieser Zeit schrieb er in Belgrad quasi im stillen Kämmerlein die großen Werke, die ihm dann den Nobelpreis einbrachten. Hier also wiederum, wenn auch in anderem Sinn, diese Verbindung von schöpferischer Kraft und exzessiver menschlicher Gewalt.

Martens: Andric hat sein Hauptwerk in einer unglaublich grausamen Zeit verfasst. Man könnte überspitzt sagen, er hat seine großen Werke mit einer Art unfreiwilligem Stipendium von Adolf Hitler und Benito Mussolini geschrieben. Denn wäre er durch den deutschen Überfall auf Jugoslawien im April 1941 nicht von einem Tag auf den anderen aus seinem Diplomatenberuf herausgerissen worden, darf man schon fragen, ob er die Zeit gehabt hätte, seine großen Werke zu verfassen. Seine Aufgabe als wichtigster Diplomat des jugoslawischen Königreichs endete über Nacht, und er stand vor dem Nichts. Dieses Nichts hat er mit seiner Literatur gefüllt.

STANDARD: Sie kennen Ost- und vor allem Südosteuropa als langjähriger Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sehr gut und leben jetzt in Wien. Hat der Begriff Mitteleuropa als kulturelles Erbe der Habsburgermonarchie in diesem Raum heute noch irgendeine Relevanz?

Martens: Bei Intellektuellen schon. Für die allgemeine Bevölkerung auf dem Balkan übt der Begriff auf sehr praktische Art eine große Attraktivität aus: Diese Länder bluten aus, weil ihre besten Generationen in Massen hierherziehen, nach Österreich, nach Deutschland, in die Schweiz. Diese Menschen wissen vielleicht gar nichts von der Mitteleuropa-Debatte und den damit verbundenen intellektuellen Konstruktionen. Aber Mitteleuropa existiert als Faktum, das wie ein Schwamm Südosteuropa aufsaugt. (Josef Kirchengast, 5.10.2019)

"Andric ist viele Kompromisse eingegangen. Das Einzige, was er nie kompromittiert hat, ist seine Literatur."
Foto: Museum der Stadt Belgrad